Halbmast
überrascht. Aber das konnte kein Mensch ahnen!»
«Pasternak, die Sonne scheint, schauen Sie selbst!»
«Ich weiß. Wenn man jetzt aus dem Fenster blickt, will man es kaum glauben, aber der Wind hat in den letzten neunzig Minuten um zwei Stärken aufgefrischt. Kein gutes Zeichen. Bis heute Abend haben wir vielleicht das Jüngste Gericht hier an der Küste. Wenn wir bis dahin nicht das Sperrwerk passiert haben, wird ein Unglück geschehen!» Der Kapitän war ein Mann, der immer einen klaren Kopf behielt, sich in Sekundenschnelle alle Gegebenheiten vor Augen führte und dann abwägen musste, wie man eine verfahrene Situation in den Griff bekam, ohne dabei zu viel Schaden anzurichten. Doch was er hier in diesem Augenblick vorschlug, war an Abgebrühtheit nicht zu überbieten.
Schmidt-Katter hingegen saß vornübergebeugt auf einem Ledersessel und sah noch kleiner aus, als er ohnehin schon war. «Entschuldigen Sie, Pasternak, aber unser Erster Mechaniker ist ums Leben gekommen. Wir müssen die Polizei verständigen. Wie stellen Sie sich das denn vor? Sollen wir erst in Eemshaven Bescheid geben, dass wir einen Todesfall haben?»
«Ja, so stelle ich mir das vor!», sagte der Kapitän unbeirrt.
Marten hatte den Mann in der schneeweißen Uniform genau im Blickfeld. Pasternak wich nicht von seiner Fahrtroute ab, er verlangsamte noch nicht einmal das Tempo.
«Aber …»
«Wir legen Grees in die Kühlräume, und kurz vor dem Ziel legen wir ihn wieder genauso hin, wie er gefunden wurde. Dann kann die Polizei ihre Untersuchungen aufnehmen.»
Nun sprang Schmidt-Katter auf. «Sie sind verrückt! Das können wir nicht machen.»
Kurz blickte der Kapitän ihn an. «Entschuldigen Sie, aber in diesem Moment sind wir in Fahrt, und aus diesem Grund treffe ich als Kapitän hier die Entscheidungen. Es liegt in meiner Verantwortung, das Schiff unbeschadet an sein Ziel zu bringen. Schlimm genug, dass wir die kleine Unfallmacke an der Seite haben. Aber wenn wir jetzt einen Stopp machen und die Polizei an Bord kommt, werden wir mit der
Poseidonna
in dieses verdammte Unwetter geraten. Und das wird sie nicht nur mit einer kleinen Macke überstehen!»
Man konnte Schmidt-Katter sogar durch das Lüftungsgitter ansehen, wie sehr es in seinem Hirn arbeitete. Natürlich hatte Jelto Pasternak auf seine Weise Recht. Eine Sturmflut bei gestautem Flusswasser, heftige Winde aus Westen, wahrscheinlich noch Niederschlag, der einem jegliche Sicht nahm … Selbst ein geübter und erfahrener Kapitän wie Pasternak würde kaum eine Chance haben, ein Schiff in dieser Größe noch manövrierfähig zu halten. Und die
Poseidonna
konnte nicht wenden, konnte nicht zurück in den Hafen fahren, weil sich das Flussbett bei der Durchfahrt des Ozeanriesen mit Schlick voll saugt und nicht mehr genügend Tiefgang hat. Es ging also nur noch Richtung Meer, und wenn seine Prognosen stimmten, blieb dafür wenig Zeit.
«Können wir nicht einfach hier liegen bleiben, bis der Sturm vorbei ist?», fragte Schmidt-Katter kleinlaut. Er kannte mit Sicherheit selbst die Antwort. Eine zu lange Stauung des Flusses würde die Deiche aufweichen, man riskierte eine Überflutung des Umlandes, wenn man die Fahrt verzögerte. Das Sperrwerk aus diesem Grund jetzt schon zu öffnen und erst nach Beruhigung des Wetters erneut zu stauen wäre ebenfalls nicht machbar. Ohne genügend Wasser unter dem Kiel würde die
Poseidonna
zur Seite kippen und vielleicht sogar kentern. Es ging nicht, und niemand machte sich die Mühe, dem verzweifelten Werftleiter diese Tatsache zu erläutern. Er wusste es selbst.
«Diese verrückte Panne eben am Werfttor hat uns bereits wertvolle Stunden gekostet. Wenn wir nun noch mehr Zeit verlieren …» Pasternak fuhr demonstrativ die Geschwindigkeit ein wenig hoch. «Erinnern Sie sich an das gekenterte Schiff in Bremerhaven? Es wurde bei einem Orkan in Schräglage gedrückt und hatte keine Chance. Drei Monate haben die Kollegen zur Bergung gebraucht, ein ganzes Jahr zum Beheben der dabei entstandenen Schäden. Die Werft, die diesen Unfall verbockt hat, konnte gleich Insolvenz anmelden. Wollen Sie das auch, lieber Schmidt-Katter?»
Dieser gab keine Antwort, stattdessen hielt er seinen Kopf in den Händen und brütete vor sich hin.
«Wohl kaum», antwortete Pasternak selbst. Danach schwiegen beide Männer einige Minuten.
Marten wusste, dass noch andere Personen im Raum waren, doch er konnte von seinem Posten aus nur einen eingeschränkten Winkel
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