Halbmondnacht
waren schon seit einer halben Ewigkeit Feinde, ja, ihre Feindschaft reichte bis zu einer Zeit zurück, aus der es keinerlei mündliche und schon gar keine schriftliche Überlieferung gab. Hätte die Vampirkönigin nicht so dringendetwas von mir gewollt, hätten wir uns heute Nacht bestimmt nicht hier versammelt.
Meiner Wölfin ging es nicht anders als James. Mit jedem Schritt, den sich die Vampire näherten, verwandelte sich ihr Unbehagen mehr und mehr in Unruhe. Heute sind sie keine Feinde. Wir müssen mit ihnen auskommen. Uns bleibt keine andere Wahl. Sie schlug mit der Rute und knurrte unablässig. Vermutlich schadete es aber auch nicht, mit Ärger von Seiten der Vampire zu rechnen. Denk daran: Sie sind an das Wort ihrer Königin gebunden. Sie riskieren sicher nicht, Eudoxia zu verärgern; außer natürlich wir liefern ihnen einen Grund, sich uns gegenüber schlecht zu benehmen.
Meine Wölfin ließ sich nicht überzeugen.
Ich war nicht einmal sicher, ob ich selbst ein Wort davon glaubte.
Die Geschwister trugen Jeans und die gleichen dunklen Strickpullover. Das stellte sogar das Gothikoutfit in den Schatten, das sie bei unserer ersten Begegnung getragen hatten. Ich wusste nicht recht, was unheilvoller erschien: wenn sie sich mit Rüschen ausstaffiert hatten oder wenn sie so vollends normal auftraten wie jetzt. Was ich über Vampire wusste, passte auf ein einziges Blatt Papier – beschriftet mit Malkreide. Größtenteils schienen die alten Mythen wahr. Das zumindest war die Erfahrung, die ich in meinen wenigen und kurzen Begegnungen mit ihnen gemacht hatte. Ich wusste, dass sie fliegen konnten; das zu verbergen wäre auch verdammt schwierig gewesen. Aber wie sie das machten, war immer noch ein großes Geheimnis. Dann waren da die Gerüchte, sie hätten hypnotische Fähigkeiten, mit denen sie Menschen in gewissem Maße manipulieren könnten. Ihre Herzen schlugen nicht: Das wusste ich aus eigener Erfahrung. Schließlich war ich schon einmal in einem Saal voller Vampire gewesen, und außer meinem eigenen war nicht ein Herzschlag zu hören gewesen. Sie schliefen tagsüber und tranken Blut. Man konnte sie, wie Werwölfe auch, töten, indem man sie enthauptete. Auf diese Art hattemein Vater ihnen stets den wahren Tod beschert. Ob Feuer sie zu vernichten vermochte, wusste ich hingegen nicht mit Sicherheit zu sagen. Auch Vampire besaßen persönliche Gaben wie wir Wölfe. Das Geschwisterpaar konnte offenkundig besser als andere Vampire Fährten lesen und ihnen folgen, deswegen hatte die Königin sie uns zur Seite gestellt.
Darüber hinaus aber waren mir Vampire ein vollkommenes Rätsel. Natürlich war es nicht überraschend, dass sie ihre Geheimnisse vor anderen schützten und bewahrten wie alle anderen übernatürlichen Gemeinschaften. Je mehr Wissen wir über uns preisgaben, desto verwundbarer wurden wir schließlich.
»Hallo.« Naomi blieb unmittelbar vor mir stehen. Ihre Stimme hatten einen leichten, weich klingenden französischen Akzent: Das H in ›hallo‹ blieb stumm. »Wir sind gekommen.«
»Ja, das war ein erstklassiger Auftritt, wirklich. Ich bin Jessica.« Ich streckte der Vampirin zur Begrüßung nicht die Hand entgegen. Mein Instinkt sagte mir, dass Vampire es nicht mochten, angefasst zu werden. Außerdem war die Aussicht, ihre gruselig kalte Haut zu berühren, nicht gerade erhebend. »Das sind meine Begleiter.« Ich deutete auf die Jungs hinter mir.
»Die Göttin, nach der wir suchen, hält sich im Norden auf«, erklärte Eamon stoisch und stand nun Schulter an Schulter mit seiner Schwester. Die beiden sahen sich wirklich bemerkenswert ähnlich. Beide hatten hohe Wangenknochen, große dunkle Augen und haselnussbraunes Haar. Eamon trug seines schulterlang, Naomis floss ihr weit den Rücken hinab. Dass die beiden ausgerechnet in ihren Zwanzigern im ewigen Tod eingefroren worden waren, hatte ihrem hellen Teint, durchscheinend wie Porzellan, über die Jahrzehnte, vielleicht auch über die Jahrhunderte wohl erst den letzten Schliff gegeben.
»In Ordnung, dann geht’s also nach Norden«, erwiderte ich und nickte den beiden zu. »Das ist ja nun erst einmal nicht sonderlich schwierig.« Im Norden von Minnesota lag Kanada. Eamonhätte ja auch sagen können, wir müssten in den Kongo. In meinen Ohren klang Kanada hundertmal besser. Allerdings waren wir bereits davon ausgegangen, dass Selene sich nicht sehr weit von den Ozarks, wo wir ihr zuletzt begegnet waren, entfernt haben dürfte, schlicht, weil sie
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