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Halloween

Halloween

Titel: Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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einzige Lüge – der Sommer und die beiden Monate, die er danach in der Schule abgesessenhat, in denen er Notizen und Hausaufgaben gemacht und sich verstellt hat. Er hat zu lange auf diesen Tag gewartet. Jetzt, wo es tatsächlich so weit ist, kommt Tim alles schal vor, nicht wie die reine Erleichterung, die er sich vorgestellt hat. Aber das wird es sein.
    «Ich arbeite heute Abend», sagt er, überzeugt, dass sein Blick in das halb leere Schälchen ihn verraten hat.
    «Das passt gut», sagt sein Dad.
    «Nimmst du Kyle mit?», fragt seine Mom.
    «Ja.»
    «Sei vorsichtig, es soll regnen.»
    Sie ist mit einer Honigmelone beschäftigt, und er braucht nicht zu antworten. Er denkt, dass sie es als Prophezeiung betrachten wird. «Fahr doch langsamer», hat er zu Toe gesagt, aber das ist was anderes.
    (Ich bin gar nicht so schnell gefahren, behauptet Toe, aber Brooks hat ausgerechnet, dass wir mit neunzig von der Straße abgekommen sind, vierzig Kilometer über der Geschwindigkeitsbegrenzung.)
    Und wer wird schon glauben, dass es ein Unfall, reiner Zufall ist? Er will sie vor den Gerüchten, vor der Wahrheit schützen, aber wie kann er sie vor sich schützen? Er müsste sich in zwei Teile spalten, der eine am Leben, der andere tot.
    Zu spät, das ist schon passiert, sie wissen es bloß noch nicht. Er freut sich fast, dass es regnen wird, als hätte er Glück gehabt, aber eigentlich stimmt das nicht.
    An der Wand des Schälchens kleben feuchte Cornflakes, in der Mitte liegt noch eine dicke Schicht. Wenn er das aufisst, wird ihm übel, aber dann denkt er, dass ihm sowieso übel wird. Er steht auf und hält das Schälchen so hoch, dass sein Dad nicht sehen kann, wie viel noch übrig ist (wie damals, als er noch klein war und seine Erbsen nicht essen wollte), geht damit zum Ausguss und spült es aus, spült die Beweise den Abfluss runter.
    «Dieser Typ ist ein Spinner», sagt sein Dad, der sich darüber amüsiert, dass Jim Carrey seitlich auf einem Stuhl liegt – dieselbe Nummer, die er schon in hundert Interviews aufgeführt hat –, und Tim fragt sich, wie es wohl wäre, berühmt zu sein und von allen geliebt zu werden.
    (Dich lieben doch alle, sagt Danielle.)
    Es würde sich nichts Besonderes ändern. Seine Mom und sein Dad lieben ihn. Danielle hat ihn geliebt.
    «Du kommst jetzt besser in die Gänge», sagt seine Mom und deutet mit einem Messer auf die Uhr am Herd.
    Auch sein Dad ist fertig und folgt ihm nach oben, ein zweites Paar Schritte. Als Tim noch klein war, ist sein Dad immer hinter ihm hergestürmt, hat ein Wettrennen draus gemacht und ihn wie beim Roller Derby weggedrängelt, aber jetzt steigen sie gleich schnell die Treppe rauf, und oben trennen sich ihre Wege.
    Im Bad springt ihn die Bedeutung von allem an – die gestreifte Tapete, die er als Kind ausgewählt hat, die brandneue Zahnbürste, die seine Mutter gerade für ihn gekauft hat (und da, im Papierkorb, die dazugehörige Plastikhülle). Am schlimmsten ist sein Gesicht im Spiegel, der Pickel an seinem Kinn, ein hartes Knötchen. Dieser Mensch. Dieser zweidimensionale Doppelgänger von ihm. Er kann nicht erkennen, was ihm durch den Kopf geht, was er zu tun glaubt. So war es auch schon vor dem Unfall; er hat sich nie so gefühlt, wie sein Spiegelbild aussah, als wäre einer von beiden falsch. Das Bild hat ihn getäuscht – er war es die ganze Zeit.
    Sein Zimmer ist voller Gebrauchsgegenstände. Was braucht er? Nicht viel. Die Schreibtischplatte ist leer. Seine Zigaretten und sein Feuerzeug stecken in der Außentasche seines Rucksacks. Sonnenbrille, Kaugummi, Füller. Bücher, Schulhefte. Er hat sogar seine Mathehausaufgaben gemacht.
    «Fünf nach!», ruft seine Mom.
    Diesmal ist sein Dad als Erster an der Treppe. Auf dem Wegnach unten sieht Tim die kahle Stelle auf Dads Kopf, den flaumigen Haarkranz ringsherum. Was wird sein Dad tun? Tims Vorstellung reicht nur bis zur Beerdigung, der Prozession frisch gewachster Cadillacs. Sie werden irgendwie weiterleben. Wenn er wollte, könnte er das auch. Es ist nicht so schwer. Man wacht auf, tut, was von einem erwartet wird, und geht schlafen, immer wieder. Man muss bloß aufpassen, dass man nichts Dummes anstellt.
    Ihre Schlüssel hängen an dem Brett in der hinteren Diele. Sein Dad küsst seine Mom, und Tim ist froh, dass er es sieht, dass er Zeuge dieser Szene sein kann.
    «Mach’s gut», sagt sein Dad und winkt ihm zu, seine Schlüssel in der einen, die Aktentasche in der anderen Hand.
    «Du auch», sagt Tim,

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