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Halloween

Halloween

Titel: Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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den Blättern.
    Es kostet sie einige Mühe, auszusteigen, dazustehen und die kalte Luft einzuatmen. Die Vorbeifahrenden werden sie mit dem Kranz sehen. Sie kann schon hören, wie sich die Gerüchte in den Frisörsalons und Pizzerien ausbreiten, wie sie beim nächsten Konzert der Schulkapelle von einer Reihe zur nächsten weitergegeben werden. Hast du schon von Nancy Sorensen gehört? Es sollte ihr egal sein, was die Leute über sie denken, aber so ist es nicht. Sogar in der Bücherei fühlt sie sich vom übrigen Avon getrennt. Wenn sie doch bloß eine Beziehung anknüpfen könnte, bei der sie nicht als Opfer betrachtet würde – denn sie ist keins. Es ist unmöglich; sie haben darüber gesprochen, ob sie wegziehen sollen, aber sie hat Angst, am Ende mit nichts dazustehen.
    Sie war schon öfter hier, ist aber erstaunt, zu sehen, wie hässlich es ist, wie belanglos, nicht die große Bühne für eine Tragödie. Das Gras ist ein Gewirr aus Staub und schmutzigen Zigarettenstummeln. Unter dem ausgebleichten Notizpapier und den angehefteten Bildern wirkt der Baum kleiner, als sie ihn in Erinnerung hat, harmlos, nicht wie ein Mörder. Es ist eine Platane, an schorfigen Rindenstücken hängen Gedichte, Pennys, der Abschnitteiner alten Eintrittskarte für Les Mis. Einige von den Blumen sind frisch, und sie fragt sich, wer sie dagelassen hat (die gelbe Rose stammt von Mr. Kulwicki, bei dem Danielle im Chor und in der Kapelle war). Sie fragt sich, ob irgendetwas für Kyle dabei ist, bückt sich aber nicht, um sich die mit rostigen Reißzwecken befestigten Karten anzusehen.
    Sie fragt sich, wo unsere Eltern sind, warum sie nicht da sind. Sie denkt, die könnten sie verstehen. (Sie hat Recht und zugleich Unrecht. Auch unsere Eltern haben ihre eigenen Probleme, die sie mit niemandem teilen können.)
    Ein Kleinbus fährt vorbei und zieht seinen eigenen Windzug hinter sich her. Ringsum knarren die hohen Bäume, die kahlen Zweige fächerförmig vor dem weißen Himmel ausgebreitet wie Nerven. Ungefähr auf Augenhöhe wählt sie eine freie Stelle aus, die der Straße zugewandt ist. Sie holt den Haken aus der Tasche, bohrt die Spitze in den Baum und schraubt ihn durch die harte Rinde, bis er fest sitzt. Sie hält uns mit beiden Händen hoch, waagerecht, hängt uns auf wie ein Bild im Wohnzimmer (und da sind wir wieder, die Fotos, von denen du uns kennst, diese Jugendlichen aus der Highschool, für immer siebzehn).
    Das Band dreht sich im Wind, und sie macht es fest, tritt einen Schritt zurück, um zu überprüfen, wie es aussieht. Die Bilder sind zu klein, und sie ist froh, dass sie an den Kranz gedacht hat. Die Leute auf der Straße werden Bescheid wissen, nur darum geht es.
    Sie blickt den Stamm hinauf, zu den sich schälenden Ästen, den fingerdicken Zweigen und baumelnden Samenkugeln, und versucht, das Alter des Baums zu schätzen. Er könnte schon fünfzig Jahre hier gestanden haben, bevor wir dagegen geprallt sind und ihn berühmt gemacht haben. Warum dieser Baum? Warum nicht der nächste oder der übernächste? Aber das ist die Definition eines Unglücks, oder? Sie gibt dem Baum keine Schuld, genauso wenig wie Kyle.
    Stimmt das?
    Es muss einfach stimmen.
    Sie sollte sein wie der Baum, unbeeindruckt, nicht zu beeindrucken, sie sollte dastehen und das Wetter Jahr um Jahr über sich ergehen lassen, ohne auf etwas zu warten.
    Sie sagt, dass sie jetzt geht, spricht ein letztes Mal zu dem Baum und hängt den Kranz gerade, der sich im Wind bereits schief gelegt hat. So, das ist besser. Als sie uns berührt, hat sie das Gefühl, dass ihr jemand zuhört, dass jemand sie verstehen
muss
. (Und direkt neben ihr, die Hand auf ihren Arm gelegt, sagt Danielle ja.) Sie tritt einen Schritt zurück, sicher, dass sie den Verstand verloren hat. Und als käme sie von einem anderen Planeten, als wäre diese Welt ihr ein Rätsel, legt sie plötzlich die Hand auf den Stamm ihres Feindes, auf die raue Rinde, als könnte sie unter seiner Holzhaut ein pochendes Herz spüren.

T ag der T oten
     
    Als Tim, mit uns allen in den Jeep gezwängt, in die Einfahrt biegt, sieht er als Erstes die Torpfosten und die ausgeschaltete Anzeigetafel hinter der Endzone, die weißen Linien der Laufbahn und die verlassenen Zuschauerplätze mit der kontrollturmartigen Pressetribüne, wo wir immer geraucht haben. Kein Lebenszeichen, nur zerzaustes gelbes Gras, das zwischen den Drittellinien völlig niedergetrampelt ist. Auf der anderen Seite jede Menge geparkte Wagen. Die

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