Halo - Tochter der Freiheit
finden.
Sie fühlte sich wie abgeschnitten, als hätte das Grauen sie von ihrem früheren Leben getrennt. Das unschuldige Mädchen, das mit Arko im Meer herumtollte, das Feigen pflückte und Flöte spielte, das nicht wusste, was Sklaverei bedeutete, es gehörte einer längst vergangenen Zeit an. Der verlorene Blick in Thanus’ Augen, Thalias Schrei der Trauer und die Verwirrung der kleinen Kinder, das Geräusch, das die fallenden Körper gemacht hatten … all diese Dinge hatten sie verändert.
Ab jetzt war Sparta ihr Feind.
Aber war der herzlose Spartaner, der eingeschworene Soldat, der grausame Knabe, dem Leben und Tod gleichgültig waren, war er derselbe, der sie aus dem Wasser gezogen, sie behütet, ihre Wunde gesäubert hatte?
»So«, sagte sie leise und gepresst, »das war wohl deine Initiationsprüfung? Bist du jetzt ein Mann?«
Er schwieg.
»Nachdem du zwei unschuldige Menschen umgebracht hast, zwölf gegen zwei …«, fuhr sie in demselben Ton fort.
Schweigen.
Dann kam ganz leise: »Was macht dein Kopf?«
»Leonidas«, sagte sie, nun etwas ruhiger, »ich verstehe dich nicht. Warum habt ihr diese Menschen getötet? Thanus – der Helote – hat mir erzählt, dass ihr sie einfach umbringt, wenn ihr Lust darauf habt, und das klang glaubhaft, aber – Leonidas, du bist doch kein schlechter Mensch. Warum solltest du so etwas tun?«
»Es sind nur Heloten«, antwortete er. »Reg dich nicht so auf.«
»Was meinst du mit ›nur Heloten‹? Sie sind Menschen …«
»Kaum!«, erwiderte er.
»Natürlich sind sie Menschen!«, zischte sie.
»Sie sind unsere Feinde«, erwiderte er.
»Was für Feinde? Was können sie euch schon antun? Es sind doch nur besiegte Sklaven auf einem Bauernhof. Ihr dagegen seid Krieger, die mächtigen spartanischen Hopliten – zumindest werdet ihr das bald sein.«
»Sie sind zehnmal mehr als wir«, sagte er ruhig. »Wir müssen sie in Schach halten.«
»Wer sagt das?«, fragte Halo, worauf er sie neugierig ansah.
»Das weiß jeder«, antwortete er.
»Und das gibt euch das Recht, diese Menschen zu töten, ihnen nachts aufzulauern und sie einfach umzubringen? Wie denken die Götter darüber?«
»Die Götter lieben Sparta«, erwiderte er freundlich, aber bestimmt. »Diese Männer waren helotische Rebellen. Die Heloten sind unsere Feinde, und jeder Mann ist ehrverpflichtet, seine Feinde zu töten. Es ist keine Blutschuld.«
Bei den Zentauren hatte Halo gelernt, dass man, wenn man sich unglücklicherweise jemanden zum Feind gemacht hatte, auf Ehre verpflichtet war, sich mit diesem so schnell wie möglich wieder zu versöhnen.
»Nun«, sagte sie, »ich nehme an, ich muss dir danken, dass du mich nicht auch getötet hast«, sagte sie bissig.
Er erhob sich ruckartig und streckte sich. Sein Umhang fiel herab, und sie sah im Mondlicht kurz etwas aufglänzen – lange, blasse Male, die sich kreuz und quer über seinen muskulösen Rücken zogen … Narben. Sie wunderte sich, woher sie stammten. Aber fragen wollte sie ihn nicht.
Sie schwieg. Sie war durstig, wollte aber auch nicht um Wasser bitten.
Einer der anderen Knaben fing plötzlich an zu schnarchen. Leonidas sah zu ihm hinüber und lächelte. »Das ist Dienikes, mein Cousin«, erklärte er.
»Ich dachte, ihr habt keine Familie«, sagte sie erstaunt. »Ich dachte, ihr tretet mit sieben Jahren in die Armee ein und habt ab da keine Familie mehr …«
»Nein, nein, im Gegenteil«, sagte er, »wir sind alle eine große Familie.«
Sie fror erbärmlich und zitterte. Bald würde es hell werden.
»Versuch zu schlafen«, sagte Leonidas.
Sie hatte noch eine Frage, hatte aber Angst, sie zu stellen. Doch sie musste fragen.
»Was hast du jetzt mit mir vor?«
Er schwieg so lange, dass sie schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete. Dann sagte er: »Ich nehme dich mit nach Sparta.«
Noch vor wenigen Tagen hätte sie sich darüber gefreut. Jetzt aber war Sparta nur noch die Heimat dieser fremdartigen, niederträchtigen, gewalttätigen Lebensart.
»Du hättest mich auch bei den Heloten lassen können«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Warum nicht?«
Er lächelte kurz und biss sich dann auf die Lippen. »Wir sind nicht die Einzigen, die heute Nacht durch die Wälder streifen«, sagte er sehr leise.
Sie verstand. Zumindest verstand sie, dass sie vielleicht von einer anderen Knabengruppe hätte getötet werden können. Aber das beantwortete eigentlich nicht ihre Frage.
Sie musste es wissen. »Warum beschützt du
Weitere Kostenlose Bücher