Halo - Tochter der Freiheit
stammt er jedenfalls nicht.«
Hilflos schaute sie zu dem Priester auf. Hinter ihm war der Eingang zur Cella, der inneren Kammer. Darüber hatte man in großen Buchstaben einen Satz eingemeißelt:
ΓΝΩθΙ ΣΑΥΤΟΝ
Das bedeutete:
ERKENNE DICH SELBST
Halo hätte beinahe laut aufgelacht und gleichzeitig fast geweint. Genau das wollte sie doch! Sich selbst erkennen.
Bitte, Apollon , betete sie still.
»Das ist meine Frage an das Orakel«, sagte sie zu dem Priester und deutete auf die Inschrift: »Wer bin ich?«
Und sie blickte ihn flehend an.
»Dann folgst du der Anweisung des Gottes«, sagte der Mann und stieß einen kurzen Pfiff aus. Ein Junge rannte herbei – derselbe, der zuvor die Treppe gefegt hatte. »Ion«, sagte der Priester, »du bist der Proxenos für diesen Pilger hier.«
Und schon war Halo im Tempel.
Ungeschickt fummelte sie am Knoten des Lederbandes, an dem ihr Amulett hing, um es für Apollon als Opfergabe darzubringen. Der Gott war ihr heute so freundlich gesinnt, und sie wollte ihm die Gabe ohne jede Reue opfern. Aber es war doch ihre kleine Eule – das Einzige, das ihr von ihren menschlichen Eltern geblieben war und das ihre leibliche Mutter mit eigenen Händen berührt hatte …
»Unsinn«, flüsterte sie sich barsch zu, »ich bin doch auch noch da! Mein Körper! Meine Hände, mein Hirn, mein Herz, meine Gedanken! Meine Mutter hat mich geboren und gestillt, und mein Vater hat mir das Leben gegeben – ich bin ein Teil von ihnen! Ich brauche dieses kleine Stückchen Gold nicht, um das zu beweisen!«
Als sie die kühle, schattige Kammer im Tempel betrat, streckte ein anderer Priester die Hand aus, und sie ließ ihre Eule auf seine Handfläche fallen.
»Wo ist dein Proxenos ?«, fragte er.
»Hier«, antwortete der Junge.
»Und hast du dein letztes Opfer?«, fragte der Priester leise.
Was denn noch?
»Das hier ist mein letztes Opfer«, sagte sie. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. »Ich habe nichts anderes. Hätte ich noch etwas mitbringen müssen? Es tut mir leid, aber ich …«
Der Priester blickte erst sie an, dann die kleine Eule. »Im Tempel ist ein drittes Opfer darzubringen«, murmelte er.
Halo kam sich töricht vor, als sie ihm das Lederband reichte, an dem die Eule gehangen hatte. Aber vielleicht verlangte Apollon ein ganzes Schaf, oder Geld … Tränen traten ihr in die Augen. So weit war sie gereist – sollte sie nun, im allerletzten Augenblick, abgewiesen werden?
Verzweifelt sank sie auf die Knie. »Liebster Apollon«, murmelte sie, »liebster Apollon, du warst immer so gut zu mir, hilf mir, bitte – die Eule ist alles, was ich habe …«
Der Priester schaute mit milden Augen auf sie hinunter, dann wandte er sich müde ab. »Geh hinein, Kind«, sagte er, als ob es doch nicht so wichtig wäre.
Sie tat es. Danke, Apollon, danke, danke, danke …
Wie dunkel es im Inneren des Tempels war! Wie in einer großen, düsteren Höhle. Flammen flackerten und warfen unruhige Schatten auf die Wände. Sie befand sich im Oikos, dem Warteraum für die Befrager des Orakels. Im Dämmerlicht konnte sie einen Altar erkennen, Statuen, undeutliche Gestalten. Am anderen Ende war ein leichtes Glühen zu sehen, vor dem sich zwei Gestalten abhoben, die eine groß und kräftig, die andere schlank. Das mussten Melesippos und der Seher sein. Erst als sie die beiden Männer erkannte, wurde ihr bewusst, dass Leonidas nicht bei ihr war.
Sie drückte sich in den dunkelsten Winkel des Raums, schob sich an den Wänden entlang und näherte sich den beiden Spartanern, die sie jedoch nicht bemerkten.
Vor ihnen erkannte sie nun den Eingang zu einem weiteren Raum. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Das muss der Eingang zum Adyton sein , dachte sie. Dort saß die Pythia auf ihrem Dreibein. Was war dort noch? Der Omphalos?, der Heilige Lorbeerbaum?, das Grab des Dionysos?, die Erdspalte? Von dem Eingang ging eine seltsame, unheimliche Stille aus. Sie hörte Wasser leise plätschern, als ob es gemächlich in ein großes Becken fiel, und roch wieder diesen köstlichen Duft … Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Wie kühl es hier war, wie erfrischend. Es erinnerte sie an …
Als die wunderbare Luft, die aus dem Adyton strömte, ihre Lungen füllte und sich in ihrem Blut ausbreitete, erkannte Halo den Duft. Sie spürte wieder Arkos Hand in ihrer, fühlte die frische, salzige Gischt des Meeres auf ihrer Haut, sah das kühle blaue Licht der Meeresgrotten von Zakynthos … Es war
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