Halo - Tochter der Freiheit
ihr deshalb als Erstes die Chirurgie beigebracht hatte, weil er wusste, dass Chirurgen im Krieg gebraucht wurden. Sie hatte nicht beabsichtigt, ihr neu erworbenes Wissen so bald anzuwenden.
»Wie ist er verwundet worden?«, fragte sie, um ihre eigene Nervosität zu überwinden. Sie wusch sich die Hände und nahm ihre Instrumente aus der Lederrolle. Nun sah sie sich die Wunde gründlich an und tastete sie vorsichtig ab. Sie spürte die Pfeilspitze im Fleisch – sie war immer noch mit dem Schaft verbunden, gut. Und sie steckte nicht im Knochen, sehr gut. Die Blutung hatte nachgelassen. Auch gut.
Ich werde es tun , dachte sie. Lieber Asklepios, ich werde diesen Pfeil jetzt entfernen. Ich schaffe das.
Ihr Tatendrang war übermächtig.
Sie wusch die gröbsten Blutkrusten ab, dann nahm sie eine Sonde mittlerer Größe – sie wusste nicht den richtigen Namen für das Instrument, denn sie hatte ihre Hausaufgaben noch nicht vollständig gemacht – und führte sie vorsichtig in die Wunde ein.
Gyges keuchte. Bitte bekomm jetzt keine Krämpfe , betete sie. Wenn deine Muskeln sich vor Schmerzen verkrampfen, schließen sie sich um die Pfeilspitze, und ich kann sie nicht rausziehen.
»Es war ein Söldner aus Kreta«, sagte Akinakes. »Die Pfeilspitzen sind groß, sind aber ohne Widerhaken, keine Sorge.«
Halo tastete die Umgebung der Wunde vorsichtig ab und erforschte gleichzeitig mit der Sonde das Innere. Akinakes hatte recht: Es gab keine Widerhaken, die das Herausziehen des Pfeils erschwert hätten.
Welche Pfeilentfernungsmethode sollte sie wählen? Sie wiederholte im Geist die verschiedenen Alternativen: Ektomie, das Herausschneiden? Oder Ephelkysmos, das Herausziehen auf demselben Weg, auf dem er eingedrungen war? Oder Diosmos, das Durchstoßen der Pfeilspitze, bis sie auf der anderen Seite austrat? Natürlich Ephelkysmos, überlegte sie. Auf demselben Weg herausziehen, wie sie hineingekommen ist. Der Schaft ist noch dran, und die Pfeilspitze ist auch nicht zu tief ins Fleisch gedrungen.
Halo entfernte die Sonde. Sie hatte keine Angst. Sie wusste, dass sie es schaffen konnte. Hauptsache, die Pfeilspitze brach nicht ab. Arimaspou hatte ihr erzählt, dass manche Stämme ihre Pfeile so konstruierten, dass sie auseinanderbrachen – damit die Wunden schwieriger zu heilen waren und der Feind die Pfeile nicht wieder verwenden konnte.
»Sie fixieren den Pfeil mit einem Finger«, erklärte sie. »Die Zentauren benutzen den Dreifingergriff.«
»Hier im Norden tun das alle«, sagte Akinakes. Er hatte sich mittlerweile wieder umgedreht und jede ihrer Bewegungen beobachtet. »Die Zentauren, die Skythen, Saurianer, Thraker, Amazonen, alle …«
Halo lächelte bei der Erwähnung der Amazonen. Sie hatte von diesem legendären Stamm von Frauenkriegern gehört.
»Aber Amazonen gibt es in Wirklichkeit nicht«, sagte sie. Sie griff nach ihrem Tiegel mit der Teerpaste– eine wachsähnliche Heilsalbe, die mit Kiefernharz keimfrei gemacht worden war – und schmierte einen Klumpen davon auf einen Verband, den sie neben die Wunde legte. Dann säuberte sie ihre kleine Greifzange. Vielleicht ist der Pfeil vergiftet? Vielleicht sollte ich Gyges zur Sicherheit ein bisschen Quendel oder Galbanharz verabreichen?
»Zentauren auch nicht«, meinte Akinakes trocken.
»Schon wahr«, erwiderte sie, »aber Arko ist wahrscheinlich anderer Meinung … Benutzen die Kreter giftige Pfeilspitzen?«
»Nein«, sagte er. Er sah ihr immer noch genau zu.
Ich glaube, ich schaffe es, ohne die Wunde weiter aufzuschneiden . Sie flüsterte: »Festhalten, Gyges.«
Dann atmete sie scharf ein. Mit einer Hand hielt sie die Wunde weit auf, mit der anderen führte sie schnell und sauber die Zange in die Wunde ein, zu beiden Seiten des hölzernen Schafts. Die Blutung wurde stärker. Sie grub tief und schnell und bekam die Pfeilspitze zu fassen. Sie wollte nicht riskieren, den Pfeil am Schaft herauszuziehen, denn sie fürchtete, dass die Pfeilspitze sonst abbrechen könnte. Aber sie musste sie beim ersten Versuch erwischen – Gyges hatte schon zu viel Blut verloren.
Da spürte sie etwas Festes zwischen den Zangenspitzen, das aber glitschig vom Blut war.
Sie zog. Mit einem Ruck kam die Pfeilspitze heraus.
Gyges gab keinen Laut von sich – nur ein kurzes Keuchen. Sie goss sauberes Wasser über die Wunde, dann warmen Wein, dann tupfte sie sie trocken, presste die Wundränder zusammen und drückte die Blutgefäße zu. Kein größeres Gefäß war betroffen. Gut.
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