Halo - Tochter der Freiheit
ihr beigebracht hatte. Bogen und Pfeile in den Händen, die Bogensehne auf Ohrhöhe, unter ihr die donnernden Hufe – wie oft war sie bei dem Versuch, freihändig zu reiten, schon vom Pferd gefallen. Sie spürte dem Rhythmus ihres Rosses nach, versuchte, den richtigen Moment abzupassen, taramtam – jetzt – taramtam – jetzt – und beim vierten jetzt schoss sie ihren Pfeil ab – sie verfehlte das Ziel um ein Stadion, aber immerhin hatte sie den richtigen Moment erwischt. Sie war zufrieden – im Augenblick wenigstens.
Sie sprang vom Pferd und las ihre Pfeile wieder auf, als sie die Menschen auf der Straße bemerkte. Es waren viel mehr als gewöhnlich – ein langsamer, immer stärker anwachsender Strom von quietschenden Wagen, schmuddeligen Eseln und schwer beladenen Menschen, die vom Land in die Stadt zogen. Halo starrte sie mitleidig an. Sie wusste, was es bedeutete, das eigene Zuhause verlassen zu müssen, und sie verstand sehr gut, warum die Leute alles mitgenommen hatten, was sie schleppen konnten – Töpfe und Pfannen, Werkzeug und Webstühle, Essensvorräte, Betten, Hühner, hölzerne Türpfosten und sogar Öfen, die hinten auf ihren Wagen klirrten. Nur ihre Tiere hatten sie nicht mitgebracht. Die sollten aus Sicherheitsgründen auf die große Insel Euböa verbracht werden.
Halo hatte ihre Heimat ohne irgendetwas verlassen müssen. Sie dachte an die weiche Decke, in die sie als Säugling gewickelt worden war. Ob Chariklo sie mitgenommen hatte, als sie Zakynthos verlassen mussten? Natürlich nicht , sagte sie sich, sie hatte genug andere Sorgen …
Halo hatte nicht geahnt, dass so viele Menschen dort draußen lebten. Sie kamen zu Hunderten, zu Tausenden. Jeden Tag wurden es mehr, und die, die als Erste gekommen waren, konnten von Glück reden, denn wo sollten sie alle bleiben? Manche hatten Verwandte in der Stadt, zu denen sie gehen konnten, aber die, die niemanden hatten, mussten im Freien kampieren. Nach und nach, Stück für Stück, füllten sich die offenen Plätze der Stadt mit Menschen, mit provisorischen Lagern und Überdachungen, mit kleinen Verschlägen, mit Bauernwagen und Bauerntrachten und Bauernhunden, mit Bauernsklaven und Bauerndialekten. Manche schlugen ihre Zelte an den Langen Mauern auf, manche schliefen in Parkanlagen und auch auf dem Marktplatz, der Agora, in den Tempelanlagen und sogar in den Tempeln selbst. Bald stolperte Halo, wo sie ging, über Bauernkinder oder einen Stapel Decken. Viele Bauernfamilien waren noch nie in Athen gewesen. Die Athener betrachteten sie neugierig.
Die Leute vom Land waren unglücklich, denn es war Frühling, ihre Weinreben schlugen aus, ihre Olivenbäume blühten, ihr Korn war beinahe reif, und sie konnten die Früchte ihrer Felder nicht hegen und pflegen und ernten. Und Archidamus wartete mit seinem Heer immer noch vor Oenoe nahe der Grenze darauf, dass Athen Boten schickte, um als Antwort auf die Provokation den Krieg zu erklären.
Aber die Spartaner warteten umsonst.
Athen rührte sich nicht.
Die Menschen versammelten sich in den Straßen und lachten über den armen alten Archidamus, was war er doch für ein Narr! Wartete und wartete und gab den Athenern genug Zeit, alles in die Stadt und in Sicherheit zu bringen. Da hockte er mit seinen vielen Soldaten und wollte kämpfen, aber es war niemand da, mit dem er hätte kämpfen können! Das hatte es noch nie gegeben! Keine Stadt – geschweige denn ein mächtiges Reich wie Athen – hatte je eine Armee in sein Land einmarschieren lassen und nicht darauf reagiert!
Perikles ging jeden Tag in die Agora, um zu hören, was die Leute zu sagen hatten. Und zwischen den Marktständen und Läden, den schattigen Bänken und kläffenden Hunden wurde ihm versichert, dass sein Plan großartig, er selbst großartig und Athen großartig sei, auch wenn die Stadt ziemlich überfüllt war.
Er beruhigte sie: »Die Spartaner wollen Athen provozieren, nicht zerstören. Sie wollen uns Angst machen, damit wir hinausgehen und kämpfen und uns mit ihnen messen. Sie benutzen unser Land als Geisel, aber sie werden es nicht nachhaltig zerstören. Euer Wein wird wieder wachsen, und Olivenbäume sind stark.«
Die Bauern aus der Umgebung von Oenoe waren skeptisch, denn es war ihr Land, das von den Füßen der Spartaner zertrampelt wurde, ihr Wein, der von ihnen ausgeschnitten, ihre Olivenbäume, die von Feuern zerstört wurden.
Aber Athen blieb standhaft. Zwar schwärmten kleine Gruppen aus, die die Angreifer bedrängten,
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