Halo
bisschen erschreckend, aber auch verblüffend. Manchmal hab ich sogar das Gefühl zu wissen, was er gleich sagen oder tun wird.» Sie schüttelte entschlossen ihre Locken. «Also … hilfst du mir?»
«Was kann ich denn tun?»
«Du kannst mir bei meinem Plan helfen. Nimm mich mit, wenn du das nächste Mal nach Fairhaven fährst.»
War Mollys Interesse am Altersheim womöglich Teil des göttlichen Plans? Wir unterstützten jeden Akt der Nächstenliebe, auch wenn die Motivation fragwürdig war.
«Das kann ich tun, aber versprich mir, dass du dir nicht zu viel davon erhoffst.»
Als Molly aufbrach, wurde es draußen schon dunkel. Gabriel bot höflich an, sie nach Hause zu fahren.
«Nein, ist schon okay», sagte Molly, die ihm nicht zur Last fallen wollte. «Ich kann nach Hause laufen. Es ist nicht so weit.»
«Tut mir leid, aber das kann ich nicht zulassen», entgegnete Gabriel und griff nach den Jeepschlüsseln. «Um diese Zeit sollten junge Mädchen wie du nicht allein auf der Straße herumlaufen.»
Er klang nicht so, als würde er mit sich reden lassen, also zwinkerte mir Molly zu und umarmte mich. «Ein Zeichen!», wisperte sie mir ins Ohr. Dann folgte sie Gabriel zum Auto, so sittsam und bescheiden, wie sie nur konnte.
Oben in meinem Zimmer versuchte ich, weiter an meiner Literaturaufgabe zu arbeiten, aber plötzlich litt ich unter einer ernsthaften Schreibblockade. Ich hatte keine einzige brauchbare Idee. Ich kritzelte ein bisschen herum, aber alles kam mir so abgeschmackt vor, dass ich es in den Papierkorb warf. Jake hatte das Gedicht begonnen, also war es nicht meins, und mir wollte einfach nichts einfallen, das zu seinem Anfang gepasst hätte. Schließlich gab ich es auf und ging hinunter, um Xavier anzurufen.
***
Wie sich herausstellte, war mein kreativer Totalausfall gar kein Problem.
«Ich habe mir die Freiheit genommen, die erste Strophe für uns zu Ende zu schreiben», verkündete Jake, als wir am nächsten Tag nebeneinander in der Literaturstunde saßen. «Ich hoffe, es macht dir nichts aus.»
«Nein, ich bin sogar dankbar. Kann ich es hören?»
Mit einer schnellen Handbewegung öffnete er sein Heft exakt auf der richtigen Seite. Er las das Gedicht flüssig vor.
«Sie hatte eines Engels Züge
Ich sah mein Bild in ihrem Gesicht
Gebunden durch der Mächt’gen Lüge
War’n wir ein Ganzes, sie und ich.»
Zögernd löste ich meinen Blick von dem Gedicht. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber Jakes Gesichtsausdruck war immer noch freundlich.
«Grauenvoll?», fragte er, und seine tiefgründigen Augen forschten nach einer Antwort in meinem Gesicht.
«Es ist gut», erwiderte ich schwach. «Du hast Talent für dieses Zeug.»
«Danke», sagte er. «Ich habe mir vorgestellt, Heathcliff aus ‹Sturmhöhe› von Emily Brontë zu sein, der über Cathy schreibt. Er hat sie so sehr geliebt, dass er keine Liebe mehr für irgendjemand anderen übrig hatte.»
«Es war eine verzehrende Liebe», nickte ich.
Ich wandte den Blick von ihm ab, aber er ergriff meine Hand und malte mit seinem Finger Kringel auf mein Handgelenk. Seine Hände fühlten sich heiß an und brannten sich geradezu in meine Haut. Als ob er mir eine stumme Botschaft schicken wollte. Ich fühlte mich unbehaglich.
«Du bist so schön», murmelte er. «Ich habe noch nie eine so zarte Haut gesehen, wie ein Blütenblatt. Aber vermutlich hörst du das dauernd.»
Ich zog meine Hand weg. «Nein», sagte ich. «Das hat mir noch niemand gesagt.»
«Es gibt noch so viel mehr, was ich dir sagen würde, wenn du mir eine Chance geben würdest.» Jake wirkte jetzt fast wie in Trance. «Ich könnte dir zeigen, was es wirklich bedeutet, jemanden zu lieben.»
«Ich liebe jemanden», sagte ich. «Und deine Hilfe brauche ich sicher nicht.»
«Ich könnte dich Dinge fühlen lassen, die du nie zuvor gefühlt hast.»
«Xavier gibt mir alles, was ich will», fuhr ich ihn an.
«Ich könnte dir ein Vergnügen bereiten, das alles bisher Denkbare übersteigt.» Jake ließ nicht locker. Seine Stimme war jetzt nur noch ein hypnotisierendes Summen.
«Ich glaube kaum, dass Xavier das gefallen würde», entgegnete ich kalt.
«Denk daran, was dir gefallen würde, Beth. Was Xavier angeht, scheinst du ihm viel zu viel zu erzählen. Ich würde ihm nur noch sagen, was er unbedingt wissen muss, wenn ich du wäre.»
Seine Direktheit schockierte mich. «Du bist eben nicht ich, und ich mache es auf meine Weise. Meine Beziehung zu Xavier basiert auf
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