Halo
Unordentlich zu sein wie ein Mensch fiel mir schwer, alle meine Instinkte schrien nach Ordnung. Das geflügelte Wort von der Himmlischen Ordnung war mehr als zutreffend.
Ich folgte Molly in die Cafeteria, wo wir die Zeit totschlugen, bis sie zu Mathe ging und ich zu Französisch. Vorher musste ich allerdings zu meinem Schrank zurück, um meine Französischbücher zu holen, die schwer und sperrig waren. Ich packte das Wörterbuch in meine Tasche und beugte mich vor, um das Lehrbuch herauszuziehen, das ganz hinten festklemmte.
«Hallo, Fremde», sagte eine Stimme hinter mir. Ich erschrak und sprang so schnell auf, dass ich mir den Kopf am Schrank stieß.
«Vorsicht!», sagte die Stimme.
Ich drehte mich um und sah Xavier Woods mit dem gleichen schiefen Lächeln im Gesicht, das ich schon von unserer ersten Begegnung her kannte. Heute trug er Sportklamotten – eine dunkelblaue Trainingshose und ein weißes Poloshirt, eine Trainingsjacke in den Schulfarben hing ihm lässig über der Schulter. Ich rieb mir den Kopf und starrte ihn an. Warum hatte er mich angesprochen?
«Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe», sagte er. «Ist alles okay mit dir?»
«Alles gut, ja», antwortete ich, erstaunt, dass mich sein durchdringender Blick erneut aus der Fassung brachte. Seine türkisfarbenen Augen waren fest auf mich gerichtet, die Augenbrauen ein Stück hochgezogen. Dieses Mal stand ich so nah vor ihm, dass ich die kupfer- und silberfarbenen Streifen in seinen Augen erkennen konnte. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel und sein Gesicht einrahmte.
«Du bist neu auf der Bryce Hamilton, oder? Wir konnten gestern ja nicht lange miteinander reden.»
Mir fiel absolut nichts ein, was ich hätte antworten können, also nickte ich und starrte auf meine Schuhe. Schließlich blickte ich doch auf – ein großer Fehler. Als sich unsere Blicke trafen, löste dies bei mir die gleiche intensive körperliche Reaktion aus wie beim letzten Mal. Ich hatte das Gefühl, aus großer Höhe hinabzustürzen.
«Ich habe gehört, dass du im Ausland gelebt hast», fuhr er fort. Mein Schweigen schien ihn nicht zu stören. «Was macht ein so weit gereistes Mädchen wie du in einem Kaff wie Venus Cove?»
«Ich bin hier mit meinen Geschwistern», murmelte ich.
«Ja, die habe ich schon gesehen», sagte er. «Man kann sie schwerlich übersehen, oder?» Er zögerte einen Moment. «Genauso wenig wie dich.»
Ich spürte, wie ich rot wurde, und wendete mich von ihm ab. Ich fühlte mich so fiebrig, dass ich überzeugt war, Wärme abzustrahlen.
«Ich bin spät dran für Französisch», sagte ich, griff nach den nächstbesten Büchern, die mir in die Hände fielen, und taumelte den Gang entlang.
«Das Sprachenzentrum liegt in der anderen Richtung», rief er mir nach, aber ich drehte mich nicht um.
Als ich endlich den richtigen Raum fand, bemerkte ich erleichtert, dass unser Lehrer auch gerade erst eingetroffen war. Mr. Collins, der für mich weder besonders französisch aussah noch so klang, war ein großer, schlaksiger Mann mit Bart. Er trug eine Tweedjacke und eine Krawatte.
Der kleine Klassenraum war gut gefüllt. Ich sah mich nach dem nächstgelegenen freien Platz um. Als ich sah, wer direkt danebensaß, schlug mein Herz einen Salto. Ich atmete tief ein und versuchte, meine Nerven zu beruhigen. Er war nur ein Junge, mehr nicht.
Xavier Woods blickte mich leicht amüsiert an, als ich mich neben ihn setzte. Ich tat mein Bestes, ihn zu ignorieren, und konzentrierte mich darauf, mein Buch auf der Seite aufzuschlagen, die Mr. Collins an die Tafel geschrieben hatte.
«Es wird dir schwerfallen, damit Französisch zu lernen», flüsterte mir Xavier ins Ohr. Ich erkannte peinlich berührt, dass ich in meiner Verwirrung das falsche Buch erwischt hatte. Vor mir lag nicht mein Französischbuch, sondern ein Buch über die Französische Revolution. Ich fühlte, wie ich zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten rot wurde, beugte mich vor und versuchte, meine Wangen hinter den Haaren zu verstecken.
«Miss Church», rief Mr. Collins. «Würden Sie bitte den ersten Absatz auf Seite 96 vorlesen, mit der Überschrift: À la bibliothèque.»
Ich erstarrte. Ich konnte nicht glauben, dass ich vor allen verkünden musste, dass ich gleich in der allerersten Stunde das falsche Buch mitgebracht hatte. Wie peinlich war das denn? Ich öffnete gerade den Mund, um mich zu entschuldigen, als Xavier mir heimlich sein Buch
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