Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
Intensität des Gefühls, das mich durchfuhr, verblüffte mich. Als ich Pete mit seinen Schläuchen und Klebestreifen und den ganzen Maschinen daliegen sah, quollen mir Tränen unter den Lidern hervor. Ein paar Zentimeter weiter in der Mitte, und die Kugel hätte ihn töten können. Ich tat so, als würde ich mir Haare aus dem Gesicht streifen, und wischte mir dabei die Wangen.
Ryan nahm meine Hand und drückte sie. Ich schaute ihn an. An der Verwirrung in seinem Gesicht merkte ich, dass er alles gesehen hatte.
Auch Emma hatte einigermaßen Gutes zu berichten. Ihre Blutwerte hatten sich zwar nicht verbessert, aber auch nicht verschlechtert. Dr. Russell hatte Verhaltensvorschriften und Medikation angepasst, und Emma war zwar noch immer erschöpft, aber nicht mehr völlig am Boden.
Auf unsere Bitte hin rief Emma den Malakologen an. Wenn Ryan und ich zur Columbia kämen, würde er die Schneckenhäuser noch am selben Tag untersuchen?
Er versprach es. Jetzt lief es wirklich rund.
Die Fahrt dauerte weniger als dreißig Minuten. Ein Mann namens Lepinsky begrüßte uns in der Lobby des staatlichen Forensikinstituts. Lepinsky war groß und muskulös, mit glänzendem Kahlkopf und einem Ring im Ohr, eher Meister Proper als ein Biologieprofessor, wie ich ihn mir vorstellte.
»Danke fürs Kommen«, sagte ich.
Lepinsky hob eine etwas zu muskulöse Schulter. »Heute keine Vorlesungen, und der Campus ist nur ein paar Schritte von hier entfernt.«
Lepinsky führte uns in ein kleines Labor mit Schränken voller langer, schmaler Schubladen. Auf schwarzen Arbeitsflächen standen Schalen, Handschuhspender, Objektträger und Mikroskope.
»Dann zeigen Sie mal, was Sie haben«, sagte Lepinsky und streckte eine Hand aus, die so groß war wie die Schaumstoffdinger, mit denen Fans bei Sportereignissen winken.
Ich gab ihm die Beweismitteltüte.
Lepinsky holte das Schneckenhaus mit einer Pinzette heraus, legte es unter ein Mikroskop und stellte die Schärfe ein.
Sekunden vergingen. Eine Minute. Dann fünf.
Ryan und ich wechselten Blicke über Lepinskys gebeugtem Rücken. Ryan hob Augenbrauen und Handflächen. Was konnte da nur so lange dauern? Ich zuckte die Achseln.
Lepinsky drehte das Schneckenhaus um.
Die Luft war schal und heiß und roch nach Desinfektionsmittel und Kleber. Ryan neben mir trat von einem Fuß auf den anderen. Blickte auf die Uhr.
Ich schaute ihn so an, wie meine Mutter mich angeschaut hatte, wenn ich in der Kirche zappelte.
Lepinsky drehte das Schneckenhaus noch einmal. Veränderte die Vergrößerung.
Ryan verschränkte die Arme. Ich wusste, dass jetzt gleich eine blöde Bemerkung kam.
»Ist in den Schubladen da Ihre Referenzsammlung?«, fragte er.
»Hm«, machte Lepinsky.
»Hat wohl einige Muscheln gekostet, was?«
Lepinsky antwortete nicht.
»Ich glaube, ich hätte das Geld lieber in frische Austern investiert.«
Ich verdrehte die Augen.
»Freut mich, dass Sie zwischen Muscheln und Austern unterscheiden«, sagte Lepinsky so ausdruckslos wie Gullet und hob den Kopf. Im Mikroskoplicht sahen die Haare, die oben aus seinem T-Shirt herauslugten, aus wie kleine, weiße Drähte.
»Und was hofft ihr Jungvolk nun, das der Weihnachtsmann bringt?«
»Eine Süßwasserschnecke namens Viviparus intertextus «, sagte ich.
»Ihr wart brave Jungs und Mädchen.«
»Wenn ich Meister Proper richtig verstanden habe, dann gehen Muscheln und Austern nicht zum selben Familientreffen«, sagte Ryan. »Na so was.«
Es war nach sechs, und wir waren auf dem Rückweg nach Charleston. Zuvor hatten wir bei Maurices Piggy Park eine Rast eingelegt. Auch wenn in dem Laden nicht alles politisch korrekt sein mag, so macht Maurice Bessinger doch erstklassige Grillsaucen.
Erschöpft von der durchgemachten Nacht und vollgestopft mit Schweinefleisch, Pommes und Eistee, hätte ich am liebsten den Kopf an die Lehne gestützt und gedöst. Stattdessen rief ich Gullet an, um ihm von Lepinskys Klassifizierung zu berichten.
»Das Schneckenhaus gehört zur selben Frischwasserart wie die, die ich in Helms’ Grab gefunden habe.«
»Ich kann Ihnen auch was erzählen, das Ihnen gefallen wird.«
Hörte ich da tatsächlich eine Emotion in Gullets Stimme? Freude? Befriedigung?
»Nachdem wir in der Ambulanz fertig waren, beschaffte sich der Bezirksstaatsanwalt einen zweiten Durchsuchungsbefehl, und die Spurensicherung nahm sich Marshalls Haus vor. Der Doktor ist ein penibler, kleiner Scheißer. Das ist das reinste Kloster, antiseptisch
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