Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
wunderte und verwirrte mich die Heftigkeit meiner Reaktion auf Petes Nähe zu sehr. Auf seine Begegnung mit dem Tod.
Es gab viel gegenseitiges Gratulieren, viel Gelächter, viel Gläserklirren. Hin und wieder hätte ich gern Ryans Hand in die meine genommen. Ich konnte es nicht. In der Zeit, die seitdem vergangen ist, habe ich mich oft gefragt, wieso.
Am Donnerstag nach dem Frühstück fuhr Ryan los. Wir küssten uns zum Abschied. Ich winkte, bis Ryans Jeep verschwunden war, und kehrte dann in Annes Haus zurück, das jetzt wieder leer war bis auf einen Hund und eine Katze. Ich hatte vor, in Charleston zu bleiben, bis Pete nach Charlotte zurückkehren konnte. Darüber hinaus hatte ich keine Pläne.
Den Donnerstagnachmittag verbrachten Boyd und ich mit Emma. Als sie die Haustür öffnete, sprang Boyd hoch und hätte sie beinahe umgeworfen. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Stoß vor die Brust abbekommen. Emmas Gesicht war erloschen. Ihre Haut war fahl, und obwohl es heiß und schwül war, trug sie Trainingsanzug und Socken. Ich musste mich anstrengen, um mein Lächeln nicht zu verlieren.
Gullet hatte Emma bereits von Marshalls Verhaftung berichtet. Wir setzten uns in die Schaukelstühle auf der Veranda und gingen noch einmal die Gespräche mit dem Arzt und seinem Pfleger durch. Ihre Reaktion war direkt und kompromisslos.
»Daniels soll einen internationalen Organhandelring betreiben und es seinem Chef anhängen? So ein Blödsinn. Du kennst doch die Beweislage. Marshall ist ein Scheißkerl und durch und durch schuldig.«
»Ja.«
»Was? Du bist nicht überzeugt?« Emmas Skepsis stand Gullets in nichts nach.
»Natürlich bin ich das. Aber ein paar Sachen bereiten mir noch Kopfzerbrechen.«
»Zum Beispiel?«
»In Marshalls Büro wurde kein einziger persönlicher Gegenstand gefunden. Warum dann gerade dieses eine Schneckenhaus?«
»Eine Million Gründe. Er wollte es mit nach Hause nehmen, hat’s dann aber vergessen. Eins fiel aus einem Behälter, kullerte in dieser Schublade ganz nach hinten, und er übersah es einfach.«
»Helms wurde zweitausendeins getötet. War dieses Schneckenhaus die ganze Zeit in Marshalls Schublade?«
»Wir reden hier nicht von Triton-Schnecken, Tempe. Die Dinger, die wir gefunden haben, sind winzig.«
»Stimmt.«
Als Boyd ein Eichhörnchen sah, sprang er auf. Ich legte ihm die Hand auf den Kopf. Er schaute mich zwar mit wirbelnden Brauenhaaren an, blieb aber am Platz.
»Marshall ist schlau«, argumentierte ich weiter. »Warum sollte er ein Schneckenhaus bei sich haben, wenn er eine Leiche verbuddelt?«
»Vielleicht kam das Schneckenhaus beim Einpacken irgendwie an Helms’ Leiche, und Marshall bemerkte es überhaupt nicht.«
An Boyds Kopfbewegungen spürte ich, dass er das Eichhörnchen mit dem Blick verfolgte.
»Gullet hat es selber gesagt«, entgegnete ich. »Marshall ist penibel. Es passt einfach nicht zum Charakter des Kerls.«
»Irgendwann macht jeder mal einen Fehler.«
»Vielleicht.«
Ich tätschelte Boyds Kopf und deutete auf den Boden. Widerwillig setzte er sich wieder.
Emma holte Eistee, und eine Weile schaukelten wir schweigend.
Vor dem Zaun ging ein Mann vorbei, eine Frau mit einem Kinderwagen, dann kamen zwei Jungs auf Rädern. Ein gelegentliches Jaulen des Chows deutete auf sein weiter bestehendes Interesse an dem Eichhörnchen hin.
»Was meinst du, wie viele Opfer es letztendlich sein werden?«
»Wer weiß?«
Ich erinnerte mich an einige der Namen in meiner Tabelle. Parker Ethridge. Harmon Poe. Daniel Snype. Jimmie Ray Teal. Matthew Summerfield. Lonnie Aikman.
»Darf ich dich was fragen, Emma?«
»Sicher.«
»Warum hast du mir nichts von Susie Ruth Aikman erzählt?«
»Von wem?«
»Lonnie Aikmans Mutter wurde letzte Woche tot in ihrem Auto aufgefunden. Würde man das nicht als Todesfall mit unklarer Ursache betrachten?«
»Wo wurde sie gefunden?«
»Am Highway 176, nordwestlich von Goose Creek.«
»Berkeley County. Das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Aber ich kann mich über den Fall informieren.«
Natürlich war sie nicht zuständig gewesen. Ich kam mir vor wie eine Idiotin, weil ich an meiner Freundin gezweifelt hatte. Sollte ich sie nach dem Vorfall mit dem Kreuzfahrtschiff befragen, den Winborne in seinem Artikel über Aikman erwähnt hatte? Vergiss es. Ging mich ja nichts an.
Um halb fünf verließen Emma die Kräfte. Wir gingen ins Haus, und ich kochte Spaghetti mit einer Sauce aus dem Gefrierfach. Boyd lief in der
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