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Halskette und Kalebasse

Halskette und Kalebasse

Titel: Halskette und Kalebasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert van Gulik
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Tiara. Hinter dem Armstuhl stand, ganz in Schwarz gekleidet, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann. Mit ausdruckslosem Gesicht ließ er eine rote Seidenschlinge durch seine großen haarigen Hände gleiten. Der alte Mann sah den Richter unter schweren Augenlidern eine Weile prüfend an. Dann sagte er:
    »Stehen Sie auf, und kommen Sie näher!«
    Hastig erhob sich der Richter und trat drei Schritte nach vorn. Er machte eine tiefe Verbeugung, schob dann die Hände in seine Ärmel und wartete darauf, daß der Obereunuch ihn ansprach. Das Geräusch eines schweren Atems verriet ihm, daß der fette Eunuch dicht hinter ihm stand.
    »Warum hätte die Dame Hortensie Sie rufen lassen sollen?« fragte der alte Mann mit seiner quengeligen Stimme. »Wir haben vier ausgezeichnete Ärzte unter unserem Personal.«
    »Diese Person«, antwortete Richter Di ehrerbietig, »könnte es selbstverständlich niemals wagen, sich mit den großen Ärzten in diesem Palast zu messen. Doch hat es sich so gefügt, daß ich dem Ehrenwerten Kuo, der unter ähnlichen Symptomen litt, in einem außerordentlich glücklichen Moment und ganz unverdientermaßen einst Linderung verschaffen konnte. In seiner großen Güte muß der Ehrenwerte Kuo der Dame Hortensie eine sehr übertriebene Darstellung der geringen Kunstfertigkeit dieser Person gegeben haben.«
    »Aha.« Der Obereunuch rieb sich langsam sein knochiges Kinn, wobei er den Richter trübsinnig musterte. Plötzlich blickte er auf und befahl knapp: »Laßt uns allein!« Der Mann in Schwarz ging zur Tür, gefolgt von dem fetten Eunuchen. Als sich die Tür hinter ihnen schloß, erhob sich der alte Mann langsam aus seinem Armstuhl. Hätte er nicht die gebeugten Schultern gehabt, wäre er fast so groß wie der Richter gewesen. Mit müder Stimme sagte er:
    »Ich möchte Ihnen meine Blumen zeigen. Kommen Sie her!« Er schlurfte zum Fenster. »Diese weiße Orchidee ist ein seltenes Exemplar und außerordentlich schwer zu züchten. Sie hat einen zarten, flüchtigen Duft.« Als Richter Di sich über die Blume beugte, fuhr der alte Eunuch fort: »Ich sehe persönlich nach ihr, jeden Tag. Leben zu geben und zu erhalten, Doktor, ist Personen meines Standes nicht gänzlich versagt.«
    Der Richter kam wieder hoch.
    »Der Prozeß der Schöpfung ist ein universeller Prozeß, Exzellenz. Wer glaubt, er sei das Monopol des Menschen, ist in der Tat sehr dumm.«
    »Es ist angenehm«, sagte der andere ein wenig wehmütig, »sich einmal ganz privat mit einem intelligenten Mann zu unterhalten. Es gibt zu viele Augen und Ohren in einem Palast, Doktor. Viel zu viele.« Dann, mit einem beinahe schüchternen Blick aus den halb verdeckten Augen, fragte er: »Warum haben Sie sich für den Arztberuf entschieden?«
    Der Richter dachte eine Weile nach. Die Frage konnte auf zweierlei Weise interpretiert werden. Er beschloß, kein Risiko einzugehen.
    »Unsere alten Weisen sagen, Exzellenz, daß Krankheit und Leiden nur Abweichungen vom Rechten Weg sind. Ich erachtete es als lohnenswerten Versuch, diese Abweichungen wieder in ihre natürliche Richtung zu lenken.«
    »Sie werden die Erfahrung gemacht haben, daß Mißerfolg ebenso häufig ist wie Erfolg.« »Ich habe mich mit den Grenzen menschlicher Bemühungen abgefunden, Exzellenz.«
    »Das ist die richtige Einstellung, Doktor. Völlig richtig.« Er klatschte in die Hände. Als der fettleibige Eunuch wieder erschienen war, sagte der alte Mann zu ihm: »Doktor Liang hat die Erlaubnis, die Goldene Brücke zu überqueren.« An den Richter gewandt, fügte er mit träger Stimme hinzu: »Ich hoffe, daß dieser eine Besuch genügen wird. Die Gesundheit der Dame Hortensie liegt uns sehr am Herzen, aber wir können nicht zulassen, daß ständig Leute von draußen hier ein und aus gehen. Auf Wiedersehen.«
    Richter Di verneigte sich tief. Der Obereunuch setzte sich an den Schreibtisch und beugte sich über seine Papiere.
    Der fette Eunuch brachte den Richter durch den Gang wieder zu der Stelle zurück, wo die junge Frau wartete. Salbungsvoll sagte er zu ihr: »Sie dürfen den Doktor mit hinübernehmen, Fräulein.« Sie drehte sich um und ging davon, ohne ihn einer Antwort zu würdigen.
    Der lange Gang endete an einer runden Mondtür, die von zwei Posten bewacht wurde. Auf ein Zeichen des fetten Mannes öffneten sie die Tür, und die drei schritten in einen wunderschön angelegten Garten mit blühenden Bäumen hinab, den ein schmaler Kanal teilte. Über ihm wölbte sich eine drei Fuß breite

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