Halskette und Kalebasse
müssen. Vor zwei Tagen, gegen Mitternacht, befand ich mich in dem Pavillon, der auf der äußeren Mauer steht und der eine Aussicht auf den Fluß bietet. Allein.« Sie warf einen verzweifelten Blick auf das silbrige Papier des hohen Lattenfensters. »Ein leuchtender Mond stand am Himmel, gerade so wie heute abend, und ich stellte mich ans Fenster, um den Ausblick zu genießen. Zuvor jedoch nahm ich meine Halskette ab und legte sie auf den Teetisch links vom Eingang. Jene Halskette, Di, ist ein kaiserlicher Schatz. Sie besteht aus vierundachtzig ungewöhnlich großen, völlig gleichen Perlen. Vater gab sie meiner Mutter, und nachdem Mutter gestorben war, wurde die Halskette mir übertragen.«
Die Dritte Prinzessin hielt inne. Sie senkte ihren Blick und betrachtete ihre langen, weißen Hände in ihrem Schoß. Dann fuhr sie fort:
»Ich nahm die Halskette ab, weil ich einmal einen Ohrring verloren habe, während ich mich aus demselben Fenster lehnte. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, versunken in die bezaubernde Flußszenerie. Als ich mich schließlich umdrehte, um wieder hineinzugehen, war die Halskette verschwunden.«
Sie hob ihre langen Wimpern und sah den Richter offen an.
»Ich wies die Palastverwaltung an, sofort mit äußerster Gründlichkeit eine Suche einzuleiten. Sowohl innerhalb als auch außerhalb meines Palastes. Bisher wurde nicht der kleinste Hinweis gefunden. Und übermorgen muß ich in die Hauptstadt zurückkehren. Bis dahin muß ich die Halskette wiederhaben, denn Vater will, daß ich sie immer trage. Ich glaube... nein, ich bin davon überzeugt, daß der Diebstahl von jemandem außerhalb des Palastes begangen wurde, Di. Er muß in einem Boot gekommen und die Mauer hinaufgeklettert sein und, während ich ihm den Rücken zukehrte, die Halskette genommen haben. Das Kommen und Gehen jeder einzelnen Person in diesem Teil meines Palastes ist sorgfältig überprüft worden. Der Dieb muß also jemand von draußen sein, und deshalb beauftrage ich Sie mit den Ermittlungen, Di.
Ihre Suche nach der Halskette hat mit der größten Verschwiegenheit zu erfolgen; niemand innerhalb oder außerhalb des Palastes darf wissen, daß ich Ihnen diese Aufgabe anvertraut habe. Sobald Sie sie jedoch gefunden haben, geben Sie Ihr Inkognito auf und kommen in Ihrer amtlichen Funktion hierher, um mir öffentlich die Halskette zurückzuerstatten. Öffnen Sie den Saum Ihres Kragens, Di.«
Während der Richter den Saum seines rechten Rockaufschlages auseinanderzog, nahm sie ein eng gefaltetes, gelbes Stück Papier aus ihrem Ärmel. Sie erhob sich und schob das Papier in das Futter seines Gewandes. Sie war groß; ihre Frisur streifte sein Gesicht, und er nahm deren zarten Duft wahr. Sie setzte sich wieder und fuhr fort:
»Das Papier, das ich Ihnen soeben gegeben habe, wird Sie in die Lage versetzen, den Palast offen zu betreten, ohne daß es jemand wagen dürfte, Sie daran zu hindern. Sie werden es mir zusammen mit meiner Halskette zurückgeben.« Und während ein zaghaftes Lächeln um ihre wunderschönen Lippen spielte, setzte sie hinzu: »Ich lege mein Glück in Ihre Hände, Di.«
Sie nickte zum Zeichen, daß er gehen konnte, und nahm ihr Buch wieder auf.
Sechstes Kapitel
Richter Di verneigte sich tief und trat in den Raum der Oberhofdame zurück. Die Täfelung schloß sich lautlos hinter ihm. Die weiße Hand von Dame Hortensie ruhte noch immer auf dem kleinen Kissen. Als er wieder ihr Gelenk befühlte, klopfte es an der Tür. Die Tochter zog, ohne ein Geräusch zu verursachen, den Riegel zurück und ließ zwei Hofdamen ein. Die erste trug ein Tablett mit Schreibutensilien, die andere einen Bambuskorb mit einem frischen Nachtgewand.
Der Richter ließ das schmale Handgelenk los, öffnete sein flaches Kästchen und nahm ein leeres Rezeptblatt heraus. Er winkte die erste Hofdame heran, wählte einen Pinsel von ihrem Tablett und notierte rasch seine Verordnung: eine schwache Dosis Ephedrin und ein Beruhigungsmittel. »Lassen Sie diese Arznei sofort zubereiten«, sagte er zu Hortensies Tochter. »Ich glaube, sie wird der Patientin große Linderung verschaffen.« Er ließ das Kästchen zuschnappen und ging zur Tür. Die junge Frau führte ihn schweigend über den Hof und zur Brücke und verließ ihn dann, ohne auch nur >Auf Wiedersehen zu sagen.
Auf der anderen Seite erwartete ihn der fette Eunuch. »Das war ein kurzer Besuch, Doktor«, sagte er mit Befriedigung in der Stimme und geleitete den Richter durch die
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