Halskette und Kalebasse
Mit leeren Augen auf das verschlungene Muster des Lattenschirms starrend, ließ er die unglaublichen Ereignisse des Abends noch einmal Revue passieren. Er hatte nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß die Aufforderung, zum Palast zu kommen, eine Folge der von Hauptmann Sju weitergegebenen Information über seine Ankunft gewesen war. Doch der Hauptmann hatte den Oberst gar nicht gesehen, und er wußte nichts vom Diebstahl der Halskette. Jemand anders in dieser Stadt mußte ihn erkannt und durch Nachsehen im Gästeverzeichnis des >Eisvogels< seinen Decknamen erfahren haben. Und diese unbekannte Person mußte einen direkten Zugang zur Prinzessin besitzen, denn zwischen seiner Ankunft hier und dem Ruf der Dame Hortensie waren nur drei Stunden verstrichen. Das alles war höchst rätselhaft. Irgendwo hinter der Halle hörte er leise, wie jemand eine zarte Melodie spielte. Der Spieler war anscheinend noch spät auf.
Seine Augen wanderten zu der offenen Kiste auf dem Boden. Sie war mit Frauengewändern vollgestopft. Weitere Kleidungsstücke hingen über der Rückenlehne von Herrn Weis Stuhl. Obenauf lag eine langärmelige Jacke aus rotem Brokat mit einem recht hübschen, goldgewirkten Blumenmuster.
Der Wirt kam zurück und teilte ihm mit, daß der Knecht sich um sein Pferd kümmern würde.
»Tut mir leid wegen der späten Störung, Herr Wei.« Richter Di verspürte keine Neigung aufzustehen, deshalb fügte er beiläufig hinzu: »Ich habe einen roten Backsteinschuppen gegenüber den Ställen bemerkt. Das ist wohl Ihr Lagerraum?«
Der Wirt warf ihm einen raschen Blick zu, ein böses Funkeln in seinen verschlagenen Augen.
»Nichts von Wert drin! Nur alte und beschädigte Möbel, Doktor. Es fällt mir schwer, mit meinen Einkünften zurechtzukommen. Wenn Sie wüßten, was ich für Ausgaben habe...« Er nahm die rote Jacke und das Kleid von seinem Stuhl, warf beides in die Kiste und setzte sich. »Ich bin in den vergangenen Tagen so beschäftigt gewesen, daß ich nicht einmal Zeit hatte, die Kleider meiner lieben Frau auszusortieren!« Dann murmelte er, halb zu sich selbst: »Hoffe, der Pfandleiher bietet mir einen guten Preis! Habe sie im Luxus gehalten, fürwahr!«
»Ich habe mit Bedauern von Ihren häuslichen Schwierigkeiten f erfahren, Herr Wei. Haben Sie eine Ahnung, wer Ihre Frau verführt haben könnte?«
»Würde mich nicht wundern, wenn es der große Strolch wäre, der manchmal zu mir kam und mich um den Posten des Türstehers bat. Lebt im Nachbardistrikt.«
»Sie könnten Klage gegen ihn erheben, nicht wahr?«
»Gegen den? Nein, vielen Dank, Doktor. Der Bursche hat Freunde in den Bergen. Ich möchte nicht gern mit durchschnittener Kehle aufwachen. Bin froh, daß der Mistkerl fort ist, und das soll er auch bleiben.«
Richter Di erhob sich und wünschte ihm eine gute Nacht.
Im zweiten Stockwerk war es totenstill. Als er sein Zimmer betrat, stellte er fest, daß es heiß und stickig darin war. Die Diener hatten bei Anbruch der Nacht die Läden geschlossen. Er wollte sie öffnen, besann sich dann jedoch eines Besseren. Es hatte keinen Sinn, Meuchelmörder zu einem nächtlichen Besuch einzuladen. Er überzeugte sich davon, daß die Tür mit einem massiven Riegel versperrt werden konnte, entkleidete sich und untersuchte die Wunde an seinem Unterarm. Der Schnitt war lang, aber nicht tief. Nachdem er ihn mit heißem Tee aus dem Teekorb gesäubert hatte, legte er einen neuen Verband an. Dann streckte er sich auf dem schmalen Bett aus, um sich einen erholsamen Schlaf zu gönnen. Aber die schwüle, stickige Luft war bedrückend, bald war er in Schweiß gebadet. Das verstümmelte Gesicht des bärtigen Mannes stieg vor seinem geistigen Auge auf, und er sah die anderen Toten mit allen schrecklichen Details. Dann überlegte er, daß Meister Kalebasse für einen verkrüppelten alten Mann erstaunlich entschlossen und geschickt gekämpft hatte. Seltsam... nun, da er Meister Kaiebasses Gesicht in dem Lagerhaus deutlich gesehen hatte, kam es ihm irgendwie bekannt vor. Konnte es sein, daß er ihm schon einmal begegnet war? Noch während er darüber nachgrübelte, nickte er ein.
Neuntes Kapitel
Der Richter erwachte früh, nach einem unruhigen Schlaf. Er stand auf und öffnete die Läden. Der klare Himmel verhieß einen schönen sonnigen Tag. Nachdem er sich das Gesicht gewaschen und den Bart gekämmt hatte, begann er, auf und ab zu gehen, die Hände hinter dem Rücken. Dann wurde ihm plötzlich klar, daß er nur
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