Halskette und Kalebasse
fest, daß niemand von ihm Notiz nahm. Hier und da rief ihm jemand einen Gruß zu, den er beantwortete, indem er die Hand hob. Er steuerte sein Reittier in Richtung >Eisvogel<, denn er wollte das Schicksal nicht allzu lange herausfordern, und seine Herberge wäre gewiß der letzte Ort, an dem die Agenten aus dem Palast ihn vermuten würden.
Die schmale Gasse hinter dem >Eisvogel< lag völlig ausgestorben da. Das hektische Treiben der Mittagszeit war vorüber, die Bediensteten ruhten sich aus, und die Händler kamen erst ungefähr eine Stunde vor dem abendlichen Reismahl. Der Richter stieg vor der Hintertür ab und spähte in den unordentlichen Garten. Die Flügeltüren von Längs Suite waren geschlossen, aus der Küche drang kein Laut. Das Fenster seines eigenen Zimmers im zweiten Stockwerk wurde durch die Läden verdeckt, aber das in dem Zimmer darunter stand halb offen. Jemand klimperte ein Lied, dieselbe Melodie, die der Richter schon am ersten Abend vernommen hatte. Jetzt fiel ihm ein, woher er sie kannte. Das Lied war vor vielen Jahren in der Hauptstadt populär gewesen. Nachdem er den Garten eine Weile beobachtet hatte, entschied er, daß das alte Lagerhaus für seine Zwecke reichen würde. Die Tür war angelehnt, und er schlüpfte hinein, die Krücken und das Schwert unter dem Arm.
Der Schuppen sah nicht sehr einladend aus. Spinnweben hingen von den schimmeligen Dachbalken herab, und ein widerlicher Modergeruch erfüllte den Raum. An der Rückwand waren entzweigegangene Stühle und Tische aufgestapelt, aber der Boden war sauber gekehrt. Als er sich die alten Möbelstücke aus der Nähe besah, entdeckte er dahinter einen Haufen Hanfsäcke.
Er schob einen wackeligen Tisch aus dem Weg und bohrte seine Schwertspitze in die Säcke. Sie enthielten Reisstroh. Er beschloß, daß sie ihm für ein paar Stunden als Bett genügen mochten. Der Esel würde sicher dahin zurücktrotten, woher er gekommen war. Nachdem er die Krücken neben dem einzigen, vergitterten Fenster an die Mauer gestellt hatte, ordnete er die Säcke neu und ließ sich, dicht an der Wand, auf ihnen nieder. Dann legte er die Hände unter den Kopf und dachte über die neuesten Entwicklungen nach.
Haos Brief an Lang war in der Tat eine gute Nachricht gewesen. Er bewies, daß die Verschwörer im Palast die Halskette noch nicht in ihren Händen hielten. Damit entfiel eine Möglichkeit, die er in Betracht gezogen hatte, nämlich, daß die Intriganten oder Herr Hao den Kassierer nach dem Diebstahl abgefangen und die Halskette direkt von dem Dieb gekauft hatten. Diese Theorie war von der Tatsache ausgegangen, daß der mysteriöse Herr Hao sich am nächsten Tag nicht bei Lang eingefunden hatte. Jetzt stand fest, daß Herr Hao verhindert worden war, genau so, wie er dies in seinem Brief an Lang konstatiert hatte, und nun hoffte er, den Handel heute abend in Längs Lagerhaus abzuschließen. Das war ausgezeichnet. Denn Haos Verhaftung würde die Verschwörer im Palast zu einer Pause und zum Nachdenken zwingen und ihm, dem Richter, den notwendigen Spielraum verschaffen, sich auf die Suche nach der Halskette zu konzentrieren. Der lange Morgen auf dem Fluß hatte ihn schläfrig gemacht, und er schloß die Augen.
Sein Schlaf wurde von vielen Träumen gestört. Das verzerrte Gesicht des bärtigen Meuchelmörders erschien wieder; es hing in der Luft und glotzte ihn mit seinem einen rollenden Auge an. Nein, es war der tote Kassierer, der sich über ihn beugte, das Gesicht grün und aufgedunsen, die hervorquellenden Augen starr auf ihn gerichtet, während entstellte Hände nach seiner Kehle tasteten. Der Richter wollte aufstehen, aber sein ganzer Körper war schwer wie Blei, und er konnte sich nicht rühren. Verzweifelt rang er nach Luft. Gerade als er zu ersticken glaubte, verwandelte sich der Kassierer in eine hochgewachsene Frau in einem beschmutzten blauen Kleid. Langes, schlammverkrustetes Haar hing wirr über ihr Gesicht und enthüllte nur den blauen, weit aufgerissenen Mund, aus dem eine geschwollene Zunge herausragte. Mit einem Schrei des Entsetzens wachte der Richter auf.
Schweißgebadet kletterte er von seinem improvisierten Bett und tappte eine Weile zwischen den alten Möbeln umher, um den schrecklichen Alptraum loszuwerden. Er fluchte leise, als er über ein paar staubige Beutel stolperte. Sie schienen Mehl enthalten zu haben. Er klopfte sich die Knie ab und streckte sich dann wieder auf den Hanf sacken aus. Nun fiel er schnell in einen traumlosen
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