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Halsknacker

Halsknacker

Titel: Halsknacker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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hochgerissen, ist herumgewirbelt und nach hinten getaumelt … Aber statt dass er sich einfach in den Schnee fallen lässt und wieder aufsteht, versucht er, das Gleichgewicht zu halten. Macht zwei Schritte. Stolpert … Ich hab das Geräusch noch heute im Ohr. Eigentlich waren es zwei Geräusche. Ein dumpfer Aufprall, und gleichzeitig so ein kurzes, hässliches Knirschen … Der Hübner ist genau auf die Kante von der Parkbank gefallen. Mit der Schläfe …
    Was dann passiert ist? Ich hab versucht, ihn aufzuwecken. Hab ihn geschüttelt. Hab ihn angebrüllt. Aber sein Kopf, der ist hin und her geschlenkert wie bei einem billigen Stofftier. Und seine großen roten Augen waren offen. Wenn du die Augen von einem Toten siehst, dann ist dir sofort klar, was los ist. Keine Glut mehr. Nur noch Asche … Aber du als gelernter Fleischer musst das ohnehin wissen, bei den Tieren ist das wahrscheinlich genauso …
    Nein, ich hab nicht die Polizei geholt. Warum? Weil ich einen Schock gehabt hab. Und weil ich wahnsinnig war, wahnsinnig vor Angst. Natürlich war’s ein Unfall, aber hätt mir das jemand geglaubt? Es wäre alles aus gewesen, verstehst du, die Schule, die Zukunft, mein ganzes Leben – ich weiß, dass mir das auch so gelungen ist, du brauchst mich gar nicht so anzuschauen …
    Ich hab dem Hübner seine Sonnenbrillen wieder aufg’setzt. Hab ihn dann die Böschung hinuntergetragen, hinter die Büsche gelegt und mit Schnee zugedeckt. Ich hab nicht daran gedacht, was geschehen wird, wenn es wärmer wird. Wenn es Tauwetter gibt. Ich wollte nur, dass er weg ist, der Hübner, dass er unsichtbar wird, so als wär das alles nicht passiert. Und die ganze Zeit hindurch hab ich das Gefühl gehabt, als würde mich jemand beobachten … Es ist schon dunkel geworden, als ich heimgelaufen bin.
    Zahl mir noch eines, Ferdl. Ich geb dir’s zurück, irgendwann, wenn ich wieder bei Kasse bin …
    Kannst du dir vorstellen, wie man sich nach so einer Sache fühlt? Es frisst dich auf. Du hast dauernd das Gefühl, als würde dich jedermann anstarren, so als hättest du dick und fett das Wort »Mörder« auf deine Stirn tätowiert. Du kannst an nichts anderes mehr denken. Du versuchst unschuldig zu wirken, aber deine Bewegungen, deine Mimik, der Klang deiner Stimme, alles schreit deine Schuld heraus … Jedes Wort von meinen Eltern, jede Frage hat so geklungen, als ahnten sie etwas. In ihren Blicken hab ich dauernd diesen schwelenden Verdacht gesehen. Wenn das Telefon geläutet oder wenn jemand an der Tür geklingelt hat – mein Herz hat mir jedes Mal fast die Brust gesprengt. Ich hab mir sofort die gedämpften Männerstimmen im Vorraum ausgemalt: »Guten Tag, gnädige Frau, ist Ihr Sohn zu Hause? Wir haben ein paar Fragen an ihn …« Es war unerträglich. Und dann kam der Weihnachtsabend.
    Stille Nacht, heilige Nacht … Singen, fressen und Geschenke auswickeln. Ich weiß nicht mehr, was ich alles bekommen hab, ich weiß nur noch, dass ich so tun musste, als würd ich mich freuen, und das war das Schlimmste. In Wirklichkeit hab ich immer nur an den Hübner gedacht, an seine Eltern, wie die jetzt vor dem Christbaum sitzen … Und dann, als ich endlich fertig war mit dem Auspacken, sagt meine Mutter zu mir: »Schau her, Bub, da ist noch ein Packerl für dich. Das ist heut Mittag vor der Tür gelegen …«
    Es war klein und in grünes Papier gewickelt, mit goldenen Sternen drauf. Ich weiß nicht warum, aber ich wollte nicht, dass mir meine Eltern zusehen, wie ich es aufmache. Schon möglich, dass es so was wie eine Vorahnung war, meine Nerven waren jedenfalls so angespannt, dass ich überall nur noch Gespenster gesehen hab. Also hab ich so getan, als müsste ich aufs Klo. Und dort hab ich dann das Papier aufgerissen …
    Mein Gott, Ferdl …
    Es war ein Zettel drin. Und der Zettel war um etwas Rundes gewickelt. Um etwas Rotes, Glitschiges. Es war … ein Augapfel. Das Aug vom Hübner …
    Ich brauch jetzt einen Schnaps. Bist du so lieb? Danke …
    Auf den Zettel war etwas geschrieben, in Blockbuchstaben. Obwohl ich’s nur einmal gelesen hab, damals, vor zweiundzwanzig Jahren, kann ich es immer noch auswendig:
    5000 SCHILLING, MORGEN ABEND. DA, WO DU MICH BEGRABEN HAST. UND KEINE TRICKS: ICH HABE IMMER EIN AUGE AUF DICH. DEIN TOTER FREUND HÜBNER.
    Ich hab alles ins Klo gespült und bin wieder raus zu meinen Eltern. Sie haben mich angestarrt wie ein Gespenst, und genau so hab ich wahrscheinlich auch ausgeschaut. Mein Vater hat mich gefragt,

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