Halte meine Seele
Folter’ hast du nicht verstanden? Gestern hat er ihr bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, sodass man durch die Wange ihre Zähne sehen konnte. Eine Seite lässt er dabei immer unversehrt, damit sie den Verlust ihrer Schönheit betrauern kann. Die Wände ihres Zimmers bestehen komplett aus Spiegeln, und die Verletzungen erstrecken sich über die gesamte Körperhälfte.“
Es war so grauenvoll, dass ich weder die Worte noch den Mut dafür fand, es zu beschreiben. Fragen waren das Einzige, was mein System noch zustande brachte, und meine Stimme hörte sich in der knochenkalten Luft ganz kratzig an. „Warum hat sie überhaupt einen Körper? Wir haben sie begraben. Ich habe sie im Sarg liegen sehen!“
„Avari hat ihn ihr zurückgegeben.“
Wir gingen an einem Mann vorbei, dessen Hemd sich verdächtig ausbeulte, und ich wich seinem Blick gerade noch rechtzeitig aus. „Ist er denn echt?“
Todds biss die Zähne zusammen. „Echt genug, um den Schmerz jede Sekunde zu fühlen.“
Bei Addison angekommen, tat ich so, als wäre alles in Ordnung, weil ich mit meiner Dummheit niemanden bloßstellen wollte. Todd legte Addy den Arm um die Hüfte, und obwohl sie vor Schmerz zusammenzuckte, ließ sie es zu. Wortlos führte Todd uns zurück zu dem seltsamen Baum, und erst im Schutz der dicken Äste schienen sich die beiden zu entspannen.
„Kaylee, du siehst wunderschön aus!“ Addison streckte ihre verstümmelte Hand aus – die Finger von den frisch aufgeworfenen Narben zu Klauen verkrümmt – und berührte Sophies schneeweißes Satinkleid.
„Danke.“ Wie gerne hätte ich ihr dasselbe gesagt, aber mehr als ein halbherziges Lächeln bekam ich in meinem Schockzustand nicht hin. „Es gehört meiner Cousine.“
Ich starrte auf das Kleid, um dem Anblick ihrer Wunden zu entgehen, und sagte mir wieder und wieder, dass es nicht meine Schuld war. Nicht ich hatte Addison das angetan: Sie hatte es sich durch den Verkauf ihrer Seele selbst angetan. Ich war lediglich daran gescheitert, sie zu retten …
„Hast du ihn gefunden?“ Todds Frage rettete mich davor, in Schuldgefühlen zu versinken.
Addy nickte eifrig, was ihr jedoch Schmerzen zu bereiten schien. „Ich habe ihn rausgelassen. Wir haben ausgemacht, dass wir uns hier treffen, sobald er deinen Bruder gefunden hat. Und deinen Vater“, fügte sie mit einem mitfühlenden Blick zu mir hinzu. „He, da ist er ja!“
Ich schielte vorsichtig zwischen den tief hängenden Zweigen hindurch, und mir fielen vor Erstaunen fast die Augen aus dem Kopf. Der Kerl, der schnurstracks auf uns zulief, war niemand anderes als der Junge mit dem Mülltonnendeckel, dem ich im Klingenweizenfeld der Unterwelt begegnet war.
„Du!“, begrüßte ich ihn, als er sich zu uns unter die Äste duckte.
„Du auch“, entgegnete er. Diese Stimme hatte ich zuletzt aus Emmas Mund gehört.
„Kennt ihr euch?“ Todd beäugte uns misstrauisch, aber ich konnte Avaris Assistenten nur gebannt anstarren.
„Du bist Alec?“
„Seit meiner Geburt, ja.“ Er zuckte die Schultern und musterte mich aus dunklen Augen eingehend. „Auch wenn der Name so ziemlich das Einzige ist, was mir aus jenem Leben geblieben ist.“
„Ich hab dich am Mittwoch im Weizenfeld gesehen.“
Er nickte. „Ich hab dich gesucht und dachte, es wäre nahe liegend, bei dir zu Hause anzufangen.“
Na toll. Auch noch ein sarkastischer Dämonenassistent.
„Aber ich muss sagen, dass du im Abendkleid besser aussiehst als im Schlafanzug.“ Er musterte Sophies Kleid – und mich in dem Kleid – anerkennend. Plötzlich sehnte ich mich nach einem Mantel, und zwar nicht nur wegen der Kälte.
„Moment mal, du hast am Mittwoch nach ihr gesucht?“, fragte Todd. „Nash ist doch erst gestern verschwunden.“
„Ja, aber ich will schon seit fünfundzwanzig Jahren hier raus, und so eine Gelegenheit läuft einem nicht alle Tage über den Weg.“
Ich stemmte die Hände in die Hüften. Es interessierte mich brennend, wer er war und woher er gewusst hatte, dass ich ihn rausholen konnte – aber jetzt gab es Wichtigeres. „Ich bring dich nirgendwo hin, solange du mich nicht zu Nash und meinem Vater bringst.“
„Sind sie bei Prime Life?“, fragte Todd. Wenn Avari in der Stadt war, hielt er sich meistens in der Unterweltversion von Prime Life auf, einem der größten Versicherungsunternehmen des Landes.
Addison schüttelte in einer steifen Bewegung den Kopf, da sie auch dabei starke Schmerzen verspürte. „Ich habe sie dort nirgends
Weitere Kostenlose Bücher