Halte meine Seele
sich ein paar Leute um ein Mädchen geschart, das die Ergebnisse der Algebra-Hausaufgaben herumzeigte, doch keiner von ihnen sah zu uns herüber. Und der Typ mit dem Iro neben uns, der seinen Spind durchwühlte, hörte über Kopfhörer so laut Musik, dass ich sogar den Song erkannte: „Evolution“ von Korn. Der hörte uns garantiert nicht.
„… in die Unterwelt werfe“, erklärte ich, vorsichtshalber flüsternd. „Ich konnte nicht erkennen, wer gestorben war, und mich nicht bewegen. Nur schreien.“
Nash drückte mich fest an sich, und in seinen Augen wirbelte das Grünbraun durcheinander.
„Irgendwann bin ich von meinem eigenen Schrei aufgewacht, und zwar in der Unterwelt. Ich stand barfuß in einem Klingenweizenfeld. Im Schlafanzug!“
Der Typ mit dem Iro knallte lautstark die Spindtür zu und schlurfte den Gang runter.
„So eine Scheiße.“ Nash hockte sich auf den Boden, an die Spinde gelehnt, und zog mich zu sich herunter. „Wie konnte das passieren?“
Darauf wusste ich selbst keine Antwort, was mir eine Höllenangst einjagte. „Dad meint, es kommt vielleicht daher, dass ich meine Fähigkeiten unbewusst so lange unterdrückt habe …“ – mir hatte nämlich niemand verraten, dass ich kein Mensch war – „und sie sich jetzt unbedingt Gehör verschaffen wollen.“ Die zweite Theorie gefiel mir weitaus weniger. „Entweder das, oder ich habe aus irgendeinem Grund eine starke Verbindung zur Unterwelt aufgebaut.“ Oder zu jemandem – oder etwas – darin.
Nash wurde ganz blass um die Nase, was mir nur noch mehr Angst einjagte. Nach der Reaktion meines Vaters, Ehrlichkeit hin oder her, hatte ich eigentlich auf ein paar aufmunternde Worte gehofft. Doch Fehlanzeige. „Das ist das Unheimlichste, was ich je gehört habe“, antwortete er stattdessen.
„Herzlichen Dank, Nash!“, erwiderte ich gereizt und verdrehte die Augen. „Du bist eine Riesenhilfe.“ So langsam reichte es wirklich. Noch mehr Angst und Enttäuschung konnte ich nicht ertragen, zumindest nicht mit so wenig Schlaf.
„Sorry. Und du kannst dich wirklich nicht daran erinnern, wer in dem Traum gestorben ist?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich wusste es ja nicht einmal im Traum. Außer einem Umriss im Nebel konnte ich nichts erkennen. Nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war.“
„Meinst du, dass es ein normaler Traum war oder Teil einer Todesahnung? Vielleicht laufen sie, wenn du schläfst, eben auf diese Art ab?“
Schulterzuckend lehnte ich mich gegen den Spind. „Wie sollte das eine Vorahnung sein? Die bekomme ich normalerweise nur, wenn jemand in meiner Nähe betroffen ist, und gestern Nacht war niemand da außer mir und …“
Oh nein … pures Entsetzen ergriff mich. Und Nashs erschrockener Miene nach zu urteilen, spiegelte sich die Angst deutlich auf meinem Gesicht wider.
„Was, wenn es Dad ist?“, flüsterte ich entsetzt. Meine Mutter war tot und mein Vater gerade erst wieder in mein Leben getreten. Ich konnte ihn nicht so schnell wieder verlieren. Das durfte nicht passieren!
„Nein.“ Nash schüttelte entschieden den Kopf und streichelte meinen Arm. „Das kann nicht sein. Bei deinen Vorahnungen sterben die Leute doch kurz danach, stimmt’s?“
So lief es tatsächlich immer ab. Doch ich traute mich noch nicht, diesen rettenden Strohhalm zu ergreifen. „Normalerweise innerhalb einer Stunde.“
„Siehst du? Und den Traum hattest du mitten in der Nacht.“
Im Kopf rechnete ich schnell rückwärts. „Ja, vor fast fünf Stunden.“
„Und dein Dad lebt noch, oder?“ Er grinste triumphierend, als hätte er gerade die Bedeutung des Lebens oder die Wurzel allen Übels entdeckt oder etwas ähnlich Unwahrscheinliches. Ich dagegen wühlte in der Tasche nach meinem Handy. „Was ist los? Hast du ihn heute Morgen nicht gesehen?“, fragte Nash verdutzt.
„Doch, aber ich muss sicher sein.“ Rasch wählte ich Dads Nummer, darauf hoffend, dass das Handyverbot in der Schule erst ab dem Gong galt.
„Hallo?“ Das war Dads Stimme, im Hintergrund Motorengeräusche. „Was ist los?“
Voller Erleichterung atmete ich auf. „Nichts“, antwortete ich fröhlich. „Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht am Steuer einschläfst, weil ich dich so früh aufgeweckt habe.“
„Alles okay, aber danke für den Anruf.“ Im Hintergrund hörte ich den Blinker ticken.
„Kein Problem. Ich muss jetzt auflegen.“ Gleich darauf ließ ich das Handy in der Tasche verschwinden.
„Geht’s dir jetzt besser?“,
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