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Halte meine Seele

Halte meine Seele

Titel: Halte meine Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Vincent
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so hoch wuchs, dass sich die Ähren auf Augenhöhe befanden, konnte ich, außer den schwankenden Halmen, nicht viel erkennen.
    Die Angst wurde übermächtig, also riss ich den Mund auf und zwang ein Krächzen hervor, das zu meinem Entsetzen sofort wieder erstarb.
    Ich schluckte erneut und ballte die Fäuste. Emmas blasses, totes Gesicht vor Augen, zwang ich den Schrei mit aller Macht hervor.
    Zum zweiten Mal an diesem Tag erklang er aus meiner Kehle, ähnlich schmerzhaft wie der erste, aber nicht annähernd so laut. Meine Stimme erstarb, und ich konnte sie nur mit Mühe wieder anstoßen. Langsam wurde der Schrei endlich stark und gleichmäßig, und jetzt bewegten sich auch die Halme um mich herum nicht mehr. Auch das Scheppern war weg, aber der Schrei übertönte sowieso alles andere. Trotzdem spürte ich instinktiv, dass die Kreatur im Feld sich nicht mehr bewegte, entweder aus Angst oder vor Überraschung.
    Doch dann bogen sich die Halme wieder in meine Richtung. Ich schrie noch lauter. Die Halme zerbarsten. Mein Puls raste. Der Hals tat mir weh. Mein Magen rebellierte und der restliche Körper mit. Und dann, nach einer gefühlt halben Ewigkeit, legte sich der vertraute graue Nebel über die Szenerie, ein Vorbote für die Rückkehr in meine Welt.
    Keine Minute zu früh.
    In genau dem Moment, als mein Schlafzimmer aus dem Nebel auftauchte – farblose Wände und Möbel, die auf unheimliche Weise das immer noch reale Klingenweizenfeld überlagerten –, durchbrach der Krachmacher die letzte Halmreihe und polterte ins Freie.
    Beinahe hätte ich laut losgelacht.
    Es war kein unheimliches Unterweltmonster, das mich fressen wollte. Es war der Deckel eines ganz normalen Mülleimers. Eine altmodische Metallscheibe mit einem Griff an der Oberseite. Die Person dahinter hatte sich mithilfe dieses Schilds einen Weg durch die scharfen Halme gebahnt, damit sie ihn nicht aufschlitzten.
    Eigentlich eine brillante Idee. Warum war ich nicht darauf gekommen?
    Langsam senkte sich der behelfsmäßige Schild, und das Letzte, was ich in der Unterwelt sah, war ein Paar hellbrauner Augen in einem dunklen Gesicht, das nicht viel älter aussah als meins, um sie herum war ein Wirrwarr an Locken und ein leichter Bartschatten zu erkennen.
    Im nächsten Moment stand ich in meinem Zimmer, und der Abdruck der Augen verschwand langsam von meiner Netzhaut.
    „Ja, dann zieh dich an, Harmony. Du musst sofort kommen!“, schrie mein Vater. Das Entsetzen in seiner Stimme war kaum zu überhören.
    An meinen Fußsohlen spürte ich etwas Weiches, Federndes, und ich blickte nach unten. Ich stand mitten im Bett. Die nackten Zehen in die Überdecke gekrallt, die Füße mit Unterweltsdreck und winzigen Blutspritzern verschmiert, wo mich die Klingenweizensplitter geschnitten hatten. Am Fußende des Bettes stand mein Vater und presste das Telefon ans Ohr.
    „Sie ist in der Unterwelt, und ich kann nicht ohne dich dahin!“, schrie er.
    „Dad?“
    Er wirbelte erschrocken herum, und erst, als er mir in die Augen sah, entspannte er sich.
    „Vergiss es, sie ist wieder da“, flüsterte er in den Hörer. Dann legte er auf und warf den Hörer aufs Bett. „Kaylee, geht es dir gut?“
    „Alles okay“, flüsterte ich, folgte dann aber seinem Blick zu meinen Oberschenkeln, aus denen einige hauchdünne Splitter ragten. „Nur ein paar Kratzer.“ Ich zog die Splitter heraus und sammelte sie in der Handfläche. Gott sei Dank war Klingenweizen nicht giftig.
    „Wo zum Teufel warst du?“ Erleichtert stürmte er auf mich zu und hob mich wie ein unartiges Kind vom Bett. „Ich hab dich schreien gehört, aber bis ich hier war, warst du schon drüben. Was hast du denn bloß angestellt?“
    „Es war ein Unfall“, murmelte ich und kuschelte mich an seine Schulter. Er drückte mich so fest an sich, dass ich kaum Luft bekam, und ich spürte sein Herz wie verrückt klopfen. „Ich hab geträumt, dass jemand gestorben ist, und bin in der Unterwelt aufgewacht.“
    „Wie bitte?“ Verwirrt schüttelte er den Kopf. „Das ist unmöglich.“ Er schob mich auf Armlänge von sich und musterte mich eindringlich. Doch als ihm klar wurde, dass es die Wahrheit war, wurde er ausnahmsweise gar nicht wütend. Er wirkte eher verängstigt. Anscheinend hatte er schreckliche Angst  – was mir wiederum Angst einjagte, weil mein Vater mir normalerweise Stärke und Sicherheit vermittelte. „Du bist im Schlaf rübergegangen?“
    „Sieht so aus.“ Ich legte die Splitter auf den Nachttisch

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