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Halte meine Seele

Halte meine Seele

Titel: Halte meine Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Vincent
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Augen zuzukneifen – zum Glück gehorchten wenigstens sie noch meinen Befehlen – und mich darauf einzustellen, den Schrei zu Ende zu bringen.
    Als ich, fast wie ein Sterbender, die letzte, heisere Note ausgehaucht hatte, befeuchtete ich meine Lippen und schluckte vorsichtig. Mir tat der Hals so weh, als hätte ich mit Glassplittern gegurgelt.
    Um meine nackten Beine wehte eine eiskalte Brise, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Von irgendwoher hörte ich ein leises, gruseliges Klimpern, wie von tausend Windspielen, die gleichzeitig angestoßen wurden.
    Moment mal, nackte Beine? Wo waren meine Jeans?
    Vor Entsetzen riss ich die Augen auf und blieb, als ich begriff, wo ich mich befand, stocksteif stehen, als wäre ich in Blei gegossen. Aber es war kein Blei. Ich steckte in einem Klingenweizenfeld fest, und das Klimpern stammte nicht von einem Windspiel. Es stammte von Hunderten hoher, olivgrüner Halme, die gegeneinanderrieben, ähnlich scharf und zerbrechlich wie mundgeblasenes Glas.
    Schwer zu sagen, wann der Traum geendet und der wahre Schrecken begonnen hatte, aber irgendwann musste ich wohl aufgewacht und – da ich immer noch schrie – versehentlich in die Unterwelt gewechselt sein. In Schlafanzughosen und Top. Barfuß und frierend.
    Ach du Scheiße!
    Mein warmes, kuscheliges Bett mit den weichen Kissen war weg, genau wie der verschlissene Teppich. Stattdessen spürte ich nackte Erde unter meinen Füßen – auch sie seltsam grau – und einen kalten, spröden Klingenweizenhalm am großen Zeh. Ein weiterer Halm kitzelte mich, vom kalten Wind angestoßen, am Ellbogen, und ich blieb wie angewurzelt stehen, um ihn nicht zu zerbrechen und von Tausenden feinen Splittern geschnitten zu werden.
    Harmony hatte behauptet, es sei unmöglich. Wir konnten die Welten nicht aus Versehen wechseln, weil neben dem Schrei einer Banshee gleichzeitig die Absicht vonnöten wäre, die Unterwelt tatsächlich zu betreten. Bedeutete das etwa, dass ich insgeheim dorthin wollte?
    Wenn das so war, dann hatte ich das Geheimnis ziemlich gut gehütet. Sogar vor mir selbst.
    Aber darüber konnte ich mir später Gedanken machen  – hoffte ich zumindest. Im Moment galt meine größte Sorge meinem wehrlosen Banshee-Hintern, den ich schleunigst hier rausbringen musste, bevor irgendein Raubtier mich verschlang. In der Unterwelt konnte das alles sein. Sogar eine Pflanze.
    An Entschlossenheit haperte es diesmal nicht, aber als ich meinen Schrei heraufbeschwor, drang nur ein heiseres Krächzen aus der Kehle. Ich hatte meine Stimme verloren, als ich mich in die Unterwelt geschrien hatte, und jetzt saß ich hier fest. Und sobald ich mich mehr als einen Millimeter bewegte, würde ich mir die Füße am Klingenweizen aufschneiden.
    Panik überfiel mich, meine Hände zitterten vor Kälte und Angst, und als es neben mir plötzlich laut krachte und wie wild klimperte, zuckte ich erschrocken zusammen. Dabei stieß ich mit dem Ellbogen an einen Halm, der in winzige, messerscharfe Scherben zersprang, die mir beim Herunterfallen die Beine zerkratzten. Einige davon blieben in der Haut stecken, aber ich konnte sie nicht entfernen, ohne noch mehr Halme zu zerbrechen. Also blieb ich so ruhig wie möglich stehen und überlegte fieberhaft, wie ich hier herauskommen könnte, während das Getöse neben mir immer lauter wurde.
    Es erinnerte an das Geräusch zerfallenden Klingenweizens, nur doppelt so laut und gefolgt von einem metallischen Scheppern.
    Verzweifelt rief ich mir Emmas Tod ins Gedächtnis – wie sie ausgesehen hatte, als sie in der Turnhalle zusammengebrochen war, der leere Blick, die schlaffen Hände neben dem Körper – und sammelte Spucke, damit ich schlucken und die Schmerzen in meinem Hals lindern konnte. Für den Schrei, der mich zurück in die Menschenwelt bringen sollte.
    Mein Puls raste. Trotz der Kälte, die fast so schneidend war wie die Klingenweizensplitter, brach mir der Schweiß aus. Das Scheppern kam immer näher, und bei jedem weiteren Laut zuckte ich zusammen.
    Ich schluckte krampfhaft. Wenn ich mich doch nur bewegen und mir den Hals reiben könnte oder, noch besser, etwas trinken. Etwas Warmes, Süßes, wie den heißen Tee, den Harmony mir nach solchen Erlebnissen immer kochte.
    Noch ein Krachen, so gefährlich nahe diesmal, dass mir das Herz in die Hose rutschte. Das nächste noch näher – wenige Zentimeter entfernt! Links von mir teilten sich die Halme in einer fast geraden Linie. Weil der Weizen aber

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