Halte meine Seele
und sank auf die Bettkante, wobei ich mich bemühte, nichts schmutzig zu machen. „Bitte sag mir, dass das nie wieder passiert. Aber bitte etwas überzeugender als Harmony, denn sie hat behauptet, dass so etwas aus Versehen gar nicht passieren kann, und das war scheinbar gelogen.“
Dad setzte sich erschöpft an den Schreibtisch. Das Goldbraun seiner Augen wirbelte vor Angst wie wild durcheinander. „Das würde ich nur zu gerne, Kay, aber ich höre das zum ersten Mal. Wie ist das passiert? Wovon hast du geträumt?“
Schulterzuckend griff ich nach der Wasserflasche auf dem Nachttisch. Die Schnittverletzungen auf meinen Schenkeln brannten wie Feuer. „Keine Ahnung. Irgendwie wusste ich das nicht mal im Traum.“ Ich blickte Dad in die Augen. „Was, wenn es wieder passiert?“ Meine Stimme war vom Schreien ganz heiser und jetzt ganz leise vor Angst.
„Das müssen wir verhindern“, sagte er bestimmt. „Wie wäre es mit einem heißen Kakao?“
Der Wecker zeigte Viertel vor vier am Mittwochmorgen. „Wenn du Kaffee machst, bin ich dabei.“ Heute Nacht konnte ich sowieso kein Auge mehr zumachen. Genauso wenig wie morgen und übermorgen, so lange, bis ich sicher war, dass ich nicht wieder in der Unterwelt aufwachen würde.
„Du trinkst Kaffee?“, fragte Dad stirnrunzelnd.
Ich folgte ihm in die Küche. „Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“
Das Telefon klingelte, und nach einem kurzen Blick aufs Display reichte Dad mir den Hörer. „Es ist Harmony. Sag ihr, dass alles okay ist, bevor sie mit Nash und der halben Armee hier anrückt.“
Ich kam seiner Bitte nach und versicherte Harmony – und somit auch Nash –, dass, bis auf mein Aufwachen in der Unterwelt, alles in Ordnung war. Sie klang mindestens genauso erschrocken wie ich und versprach, sich zu erkundigen, wie sich so etwas in Zukunft vermeiden ließ. Dann reichte sie mich kurz an Nash weiter, damit wir uns Gute Nacht oder vielmehr Guten Morgen wünschen konnten, und als das Gespräch beendet war, zog bereits frischer Kaffeeduft – meiner Meinung nach immer besser als der Geschmack – durch die Wohnung.
Bei einer Tasse Kaffee mit Unmengen Milch und Zucker erzählte ich Dad von dem Weizenfeld in der Unterweltsversion unseres Hauses und von dem Mülltonnendeckel schwingenden Jungen. Nachdem wir alle möglichen Theorien über den geheimnisvollen Jungen und meinen unvorhergesehenen Ausflug durchgekaut hatten, war es Zeit für eine zweite Kanne.
Wir saßen drei Stunden gemeinsam am Küchentisch und sprachen über die einzige Sache, die wir – außer der Zugehörigkeit zur selben Spezies – gemeinsam hatten: meine Mutter. Früher war Dad diesem Thema immer ausgewichen, doch an diesem Morgen, ausgelöst wahrscheinlich durch die Angst, mich auch zu verlieren, teilte er seine Erinnerungen bereitwillig mit mir. Er beantwortete sogar meine spontan auftauchenden Fragen. Worüber wir nicht sprachen, war mein Tod – und der meiner Mutter, die sich für mich geopfert hatte.
Dieses Thema musste noch warten, auch wenn mir dazu tausend Fragen auf der Seele brannten. Für solch schmerzhafte Erinnerungen waren wir beide zu müde und zu geschockt.
Als der Wecker auf meinem Nachttisch klingelte, hatte ich zum ersten Mal seit meinem dritten Geburtstag das Gefühl, meine Mutter wirklich zu kennen.
Und meinen Vater zumindest ein bisschen besser.
8. KAPITEL
Als ich gerade meinen Spind zusperrte, legte Nash von hinten die Arme um mich. „Hallo, Süße“, flüsterte er und küsste mich zärtlich auf den Nacken. Allein der Klang seiner Stimme beruhigte mich ungemein. „Harte Nacht gehabt?“
„Und wie. Ich war so durch den Wind, das kannst du dir gar nicht vorstellen“, seufzte ich und kuschelte mich an seine Brust. Er war so schön warm, und ein Teil der Anspannung, die mir von meiner zwischenweltlichen Exkursion noch in den Knochen steckte, fiel von mir ab. Die Müdigkeit jedoch blieb. Zum Glück hatte ich vorsorglich zwei Dosen Cola frisch aus dem Kühlschrank eingepackt, deren Kondenswasser wahrscheinlich gerade meine halb fertigen Chemiehausaufgaben aufweichte.
„Bist du wirklich im Schlaf in die Unterwelt gewechselt?“
Ich drehte mich zu ihm um und bettete den Kopf an seine Schulter. „Ja, es war echt seltsam. Richtig unheimlich. Ich habe geträumt, dass jemand gestorben ist, und im Traum stand ich mitten in diesem grauen Nebel, den ich immer sehe, wenn ich einen Blick in die …“
Konnte uns jemand hören? Am Spind gegenüber hatten
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