Haltlos
seit seiner Wandlung als legaler Novize eine einzigartige Fähigkeit. Diese Fähigkeit nannten viele den „Blick zu den Toten“. Aivan empfand sie manches Mal als Last, die ihm jedoch die Position beim Gelehrten Rat sicherte und ihm so gewissen Annehmlichkeiten einbrachte. Sobald Aivan einen Raum betrat, absorbierte sein Körper die Energie aus der umliegenden Luft. Er konnte so Ereignisse aus jüngster Vergangenheit als Beobachter rekapitulieren. Er brauchte Jahrzehnte um nicht alles aufzusagen und die Gabe unter Kontrolle zu bringen. Unfehlbar war seine Wahrnehmung mittlerer Weile bei Ereignissen, die bis zu acht Stunden zurücklagen. Darüber hinaus war die Energie in der Luft für ihn nicht konzentriert genug und so konnte er alles nur wie durch einen dichten Nebel sehen. Nach 24 Stunden hatte er keine Chance mehr irgendetwas herauszufinden. Das war allerdings nur ein Teil seiner Fähigkeit. Der andere, bedeutend diffizilere schwächte Aivan stark. Durch eine mentale Visualisierung und einem hohen Maß an Konzentration, gepaart mit direktem Hautkontakt zu einer verstorbenen Person, konnte Aivan mit dem Geist des Toten verschmelzen. Aivan konnte auf diesem Wege dessen letzten Minuten am eigenen Leib erfahren. Die Zeitspanne dieser Erfahrung differierte zwischen ein paar Minuten bis hin zu ein paar Stunden. Nach mehreren dieser Erfahrungen, konnte Aivan bestimmen, dass die Länge von dem jeweiligen Ableben geprägt wurde. War das Ableben schmerzfrei und natürlich, waren es meist ein paar wenige Minuten. Erfuhr ein Toter jedoch einen gewaltsamen Tod und vollzog sich dieser über mehrere Stunden, dann war auch Aivans Verschmelzen von der Dauer darauf abgestimmt. Es waren nicht
Erlebnisse und oft waren sie von durchdrungen. Obwohl sich Vampire immer die schönsten
Schmerz und Leid im Allgemeinen nicht wirklich Gedanken um Dinge wie Schmerz, Leid und Qualen machen, besitzen sie dennoch so viel Überlebensinstinkt diesen aus dem Weg zu gehen. Dennoch teilte Aivan diese Erfahrungen bewusst mit den Toten. Diese Art der Verschmelzung verlangte auch einiges an körperlicher Kraft von ihm. Aber es war ein notwendiges Übel, dass er auf sich nehmen musste, um die ihm übertragenen Aufgaben pflichtgemäß zu erfüllen. Aivan stand reglos vor der Leiche des Novizen, denn illegal oder legal, er hatte als Novize das Recht, dass sein spontaner Tot aufgeklärt wurde. Er nutzte ein paar Minuten der Stille, um seine Kräfte zu sammeln. Nachdem er bereit war, sank er am Kopf des Toten langsam auf seine Knie. Viele sahen in dem kurzen Zögern eine Art Mitgefühl für die Verstorbenen, Aivan jedoch versuchte nur den Moment des Energieflusses abzupassen, der es ihm ermöglichte Verbindung aufzunehmen. Aivan passte genau diese Augenblicke ab, legte seine Hände an die Schläfen des Opfers und streckte seine Gedanken nach der letzten Energie aus. Heute musste er seinen Geist nicht zur Gänze dehnen, der Orden hatte sich nicht viel Zeit nach der Tötung gelassen, und den Gelehrten Rat umgehend darüber in Kenntnis gesetzt. Als er sie nun zu fassen bekam, wurde er von dem Sog purer Energie in einen Strudel von Wellen gezogen und wurde von diesen ein paar Stunden zurück in den lebendigen Novizen katapultiert. Er schlug die Augen auf, in der Gedankenwelt war er am Leben. Er wusste nicht, dass er in wenigen Minuten sterben würde. Aivan schätzte ihn auf etwa zwei Monate. Er war faktisch noch ein Welpe. Das Alter durfte aber für seine Aufgabe keine Rolle spielen, denn ob Welpe oder nicht, den Tod konnten die Novizen vom ersten Tag ihrer Wandlung bringen. Und nach dem inneren Zustand dieses Novizen zu urteilen, wollte dieser in diesem Moment genau das. All seine Gedanken kreisten um Blut. Er hockte den ganzen Tag über hier in dieser staubigen, zugemüllten Lagerhalle. Eine Konfrontation mit dem Sonnenlicht wäre in den ersten Jahren sein sicherer Tod gewesen. Er hatte keine andere Wahl gehabt, als sich tagsüber zu verstecken, und das wusste jeder Vampir instinktiv. Das Warten hatte ihn fast aushungern lassen, er wollte keine Minute länger hier drinnen seine Zeit verschwenden. Er musst jagen und trinken. Er hatte Durst, so einen unersättlichen Durst, der ihn schier in den Wahnsinn zu treiben schien. Seine Kehle brannte, als habe er Schleifpapier verschluckt und nur das ersehnte Blut hieß ihm Linderung. Ein Opfer, er brauchte unbedingt ein Opfer. Ob willig oder nicht, so viel Zeit hatte er nicht. Es war ihm egal. Jeder legale Novize
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