Halva, meine Sueße
Halva«, sagte er leise.
Die Haut in ihrem Nacken prickelte. Seine Stimme klang
wie eine Umarmung. Waren denn alle taub, die Liebe darin
nicht zu hören? Mudi aber ließ sie nicht aus den Augen,
sodass Halva Kai ebenso höflich antwortete und es vermied,
ihm die Hand zu geben, was im Iran gegenüber dem Freund
eines Bruders nicht weiter ungewöhnlich war.
Dann warf sie ihm doch noch einen kurzen Blick zu. Die
Leidenschaft in Kais Augen ging ihr durch Mark und Bein.
Wie sollte sie den Abend durchstehen? Seine Gedanken
strahlten zu ihr herüber und jeder von ihnen war eine Liebkosung.
Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen.
Mudi fasste sie am Arm und legte seine andere Hand auf
Kais Schulter. »Kommt, wir gehen auch rein«, sagte er.
»Oh, ein Zimmerspringbrunnen. Ich weiß gar nicht, wie
lange ich so etwas schon nicht mehr gesehen habe!«, sagte
Kais Vater gerade.
»Gefällt er Ihnen? Nehmen Sie ihn mit, bitte!«, sagte Raya.
Miryam und Halva tauschten belustigte Blicke aus. Raya gab
Tarof
noch eine ganz neue Bedeutung! Die Vorstellung von
Kais Vater, der das Haus mit dem Zimmerspringbrunnen
unter dem Arm verließ, war einfach zu witzig.
Mudi klopfte Kai noch einmal auf die Schulter. »Schön,
dass du da bist.«
Ja, sehr schön, dachte Halva, deren Innerstes sich aufzulösen
schien. Wenn nur alles gut ging! Sie fürchtete ein neues
Jahr, in dem vielleicht alles so weiterlief wie bisher. Oder viel schlimmer: in dem sie in den Iran musste, um einen Mann
zu heiraten, den sie nicht kannte.
Heiraten! Hatte sie eigentlich mal WIRKLICH darüber
nachgedacht? Mit ihm leben, mit ihm schlafen … Mit ihm
tun, was sie eigentlich mit Kai tun wollte, wozu sie aber nie
die Möglichkeit hatten …?
Halva fasste sich. Nein. Kais Gegenwart war ein Schutzschirm
gegen diese Gedanken. Nicht heute Abend. Dieser
Abend barg Hoffnung.
Sie freute sich auf ein neues Jahr, in dem Kai und sie offen
und frei zusammen sein konnten.
Baba zog gerade zwei Stühle vom Tisch weg. »Setzen Sie
sich. Wir essen normalerweise auf den Kissen, aber Sie als
unsere Gäste …«
»Trinken wir doch erst den Aperitif …«, unterbrach Raya
ihn.
Wie aufgeregt ihre Eltern waren. Weshalb? Es stimmte,
in den zehn Jahren in Deutschland hatten sie so gut wie nie
deutsche Gäste gehabt. In Augsburg gab es eine überschaubare
Gemeinschaft von Exil-Iranern, mit denen sie sich häufig
trafen. Oder ging es wieder um Mudi und sein verdammtes
Praktikum? Was wollten ihre Eltern den Blessings beweisen?
Kai schien ihre Gedanken zu spüren. »Was für originelle
Sektschalen«, sagte er freundlich, um Raya zu beruhigen. Sie
schenkte ihm gerade seinen Champagner ein und verschüttete
etwas davon.
»Halva hat sie auf dem Flohmarkt gefunden. Sie hat
immer ein Auge für das Besondere.«
Kai schwieg und hob diskret sein Glas in Halvas Richtung.
Auf uns, sagte sein Blick, ehe er zu Cyrus sagte: »Wenn Sie sonst auf den Kissen essen, dann wollen wir das genauso
machen. Oder, Papa?«
»Sicher. Sicher«, sagte Kais Vater und streifte wie auch
Mudi und Cyrus seine Schuhe ab, bevor er sich unbeholfen
im Schneidersitz auf den Kissen niederließ. Na also, es geht
doch, dachte Halva, als sie sich mit klopfendem Herzen Kai
gegenüber auf ein Kissen setzte. Es fühlte sich an wie eine
große Familie, die zusammen Neujahr feierte.
»Das war köstlich«, sagte Dr. Blessing und schob seinen Teller
beiseite.
»Nehmen Sie doch noch ein wenig mehr …« Raya bot
ihm zum dritten Mal von dem frischen Obstsalat und der
Quittentorte an.
»Ich kann wirklich nicht mehr, danke«, sagte Kais Vater
und rückte sich in seinem Schneidersitz zurecht. Kai schliefen
schon beim Hinsehen die Füße ein! Weshalb hatte sein
Vater seine Schienbeine denn so unmöglich verdreht? Er sah
zu Halva, die ihre Beine anmutig angewinkelt hatte, und
versuchte, sie nachzuahmen.
»Sie trinken aber doch Tee, ehe wir tanzen?«, ließ Raya
nicht locker.
»Tanzen?«, fragte Uli Blessing ungläubig. Sein Blick
schweifte kurz zu seinen besockten Füßen.
Halva versuchte zu erklären: »Wir tanzen oft, Dr. Blessing.
Beinahe nach jedem größeren Essen. Ich weiß, in Deutschland
muss dazu immer gleich ein richtiges Fest gefeiert
werden. Bei uns genügt es, dass wir beisammen sind. Dann
klatscht jemand in die Hände und schon stehen alle auf.«
»Aha«, sagte Uli Blessing nur. Kai bemerkte, wie sein Vater sich erneut unbehaglich in dem bescheidenen Wohnzimmer
umsah. Kai wurde heiß unter der Kopfhaut und er
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