Halva, meine Sueße
schämte
sich. Aber nicht für Halva und ihre Familie, die bei ihrer
Ankunft in Deutschland bei null angefangen hatten. Er
schämte sich für seinen Vater, weil er ahnte, was gerade in
seinem Kopf vorging. Dieser Abend mit dem fremden, köstlich
marinierten und eingelegten Essen, der Musik aus dem
CD-Spieler, dem bunt glitzernden Zimmerspringbrunnen
und den Sitzkissen auf dem Boden passte so ganz und gar
nicht in Ulis Welt von Golfklub-Soirees und Porsches. Doch
Kai hoffte, dass er sich irrte. Vielleicht steckte ja irgendwo
in seinem Vater doch noch der Student, der seiner Freundin
Kassetten bespielte.
»Ich trinke gerne Tee«, antwortete Uli Blessing nun. »Mit
Milch und Zucker, bitte.«
Miryam und Halva legten sich die Zuckerstücke auf die
Zunge und tranken ihren Tee, während Dr. Blessing seinen
Zucker in die Tasse warf und umrührte. Eine kleine Pause
entstand, in der sein Löffel gegen das Porzellan schlug.
Kai lächelte Mudi an, doch Halva wusste, dass das ihr galt.
Sie versuchte wieder, sich ihre beiden Familien unter anderen
Umständen so zusammen vorzustellen. Normal, eben.
Ohne den verfluchten Handel ihres Vaters vor zehn Jahren
wäre alles anders, dachte sie bitter.
Als Miryam den Tee in die Küche brachte, klatschte Raya
in die Hände. Mudi lehnte sich nach hinten und drehte die
Musik auf. Es war ein schneller, fordernder Rhythmus und
Kai sah rasch zu Halva hinüber. Sie las die Frage in seinem
Blick: Durfte er sie auffordern? Sie schüttelte beinahe unmerklich
den Kopf. Nicht hier, nicht heute. Oder zumindest nicht gleich beim ersten Tanz. Aber wenn sie überhaupt
nicht miteinander tanzten, sah das auch komisch aus, oder?
Außerdem ging der Rhythmus ihr in die Füße.
Ihr Blick traf den von Miryam. Ihre Tante sah sie warnend
an und Halva sank innerlich in sich zusammen. Der
Abend, der eine Erleichterung sein sollte, wurde zu einer
harten Prüfung!
Miryam stand auf und streckte Kai die Hände entgegen.
Damit war das Problem gelöst, dachte Halva enttäuscht.
Sie sehnte sich nach Kais Griff. Danach, ihm nahe zu sein.
Schnell stand sie ebenfalls auf und trug das Gebäck, das
Raya zum Tee angeboten hatte, in die Küche.
Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, hatte ihre Mutter
Dr. Blessing gerade auf die Füße gezogen und begann, sich
gekonnt im Takt der Musik zu wiegen. Kais Vater folgte etwas
ungelenk ihren Bewegungen, ohne sie dabei zu berühren.
Mudi und Cyrus klatschten in die Hände und Halva gesellte
sich zu ihnen.
Nach einem kurzen Tanz ließ Miryam Kais Hände los und
griff stattdessen nach Halva. Die beiden Mädchen tanzten
lachend miteinander. Kai beobachtete Halva aus den Augenwinkeln
– diese Art von Tanz, die ihm am Abend der Erstsemesterparty
erst das Herz und dann auch den Verstand
geraubt hatte. Die Musik wurde lauter, Cyrus stampfte mit
den Füßen, drehte sich, fasste Raya an den Händen und
wirbelte sie im Kreis. Kai klatschte in die Hände und stieß
seinen Vater an, der zwar ganz rote Wangen hatte, aber dennoch
etwas hölzern am Rand des Zimmers stand. Er selbst
wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Heizung musste voll aufgedreht worden sein und in dem kleinen Raum
herrschte eine brütende Hitze.
»Mach doch wieder mit«, rief er seinem Vater zu und sofort
kam Miryam herbei und forderte Uli Blessing zum Tanz
auf.
Der musste lachen. »Nein, nein, bitte, ich habe mein Soll
erfüllt.«
»Kommen Sie, es geht ganz einfach«, beharrte Miryam.
»Aber ich habe zwei linke Füße!«
»Ach was! Das sah gerade ganz anders aus! Sie müssen mir
nur folgen. Können Sie das?«
Kais Vater nickte.
»Gut. Folgen Sie mir. Folgen Sie der Musik. Und ich folge
Ihnen.«
Uli Blessing errötete noch stärker und Kai musste ein Lächeln
unterdrücken. Es tat seinem Vater gut, aus der Welt der
Klinik, wo die meisten Menschen aus professionellem Respekt
Abstand hielten, und den abgehobenen Dinnerpartys
herauszukommen. Hier, heute Abend, war das Leben bunt
und fröhlich. Die Mansouris waren eine
Familie.
Er verstand
nun Halva und ihre Zweifel und Ängste. Die Entscheidung,
die ihre Familie und ihre Liebe ihr abzwangen, war grässlich.
Sie gab so vieles auf, wenn sie mit ihm ging. Alles, womit sie
aufgewachsen war. Eine Welt. Ihre Welt. Konnten sie zusammen
eine neue aufbauen? In seinem Herzen kannte er die
Antwort darauf: ja.
Er beobachtete, wie sein Vater sich zusammen mit Miryam
im Rhythmus der Musik bewegte, während sie sich
drehte, von ihm entfernte und wieder zu ihm fand.
Mit einem Mal
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