Hana
Deering Highlands.
Diesmal muss ich mich nicht heimlich hinausschleichen. Meine Eltern sind heute Abend bei einer Benefizveranstaltung; die Naturschutzgesellschaft Portland hält ihr jährliches Galadiner ab. Angelicas Eltern sind auch dort. Das macht die Sache deutlich einfacher. Anstatt nach Anbruch der Ausgangssperre rauszuschleichen, treffen Angelica und ich uns schon früher in den Highlands. Sie hat eine halbe Flasche Wein, Brot und Käse mitgebracht und sie ist rotgesichtig und aufgeregt. Wir sitzen auf der Veranda einer verbarrikadierten Villa und essen zu Abend, während die Sonne sich hinter den Bäumen in roten und rosa Wellen bricht und schließlich ganz versinkt.
Um halb zehn machen wir uns auf den Weg zur Tanglewild Lane.
Keine von uns kennt die genaue Adresse, aber es dauert nicht lange, bis wir das Haus gefunden haben. Die Tanglewild Lane besteht nur aus ein paar überwucherten Brachen. Das Einzige, was auf Häuser hindeutet, sind einige spitze Dächer, die hinter den Bäumen aufragen – gerade so zu erkennen, zeichnen sie sich vor dem purpurfarbenen Himmel ab. Die Nacht ist bemerkenswert ruhig und die Trommelschläge, die unter dem Gezirpe der Grillen hindurchdröhnen, sind leicht auszumachen. Wir biegen in eine lange, schmale Auffahrt ein, deren Asphalt voller Risse ist, die von Moos und Gras überwuchert werden. Angelica löst ihr Zopfgummi, dann bindet sie das Haar zu einem Pferdeschwanz, dann schüttelt sie es erneut offen über die Schultern. Mich überkommt heftiges Mitleid mit ihr und gleich darauf verspüre ich ein ängstliches Ziehen in der Magengrube.
Angelicas Eingriff ist für nächste Woche angesetzt.
Als wir uns dem Haus nähern, wird der Trommelrhythmus lauter, obwohl er immer noch gedämpft klingt; alle Fenster sind mit Brettern vernagelt, stelle ich fest, und die Tür ist fest verschlossen und rundherum mit Isoliermaterial versehen. In dem Moment, als wir eintreten, wird die Musik zu einem Dröhnen: ein Schwall Gehämmer und kreischender Gitarrenmusik, der durch die Dielen und Wände hallt. Einen Moment stehe ich desorientiert blinzelnd im hellen Licht, das aus der Küche dringt. Die Musik spannt meinen Kopf in einen Schraubstock – sie presst, sie quetscht alle anderen Gedanken hinaus.
»Macht die Tür zu, hab ich gesagt!« Jemand – ein Mädchen mit flammend roten Haaren – stürmt fast schreiend an uns vorbei und knallt die Tür zu, damit der Lärm nicht nach draußen dringt. Sie wirft mir einen unfreundlichen Blick zu, als sie in die Küche zurück zu dem Typen geht, mit dem sie sich unterhalten hat. Er ist groß, blond und dürr, scheint nur aus Ellbogen und Kniescheiben zu bestehen. Jung. Höchstens vierzehn. Auf seinem T-Shirt steht Marine-Akademie Portland .
Ich muss an Sarah Sterling denken und spüre Übelkeit in mir aufsteigen. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die Musik, die durch den Fußboden dringt und in meinen Knochen vibriert. Mein Herz passt sich ihrem Rhythmus an und klopft schnell und heftig in meiner Brust. Bis vor kurzem hatte ich solche Musik noch nie gehört, nur die gemessenen, bedächtigen Melodien, die endlos auf Radio One laufen. Das gehört zu den Dingen, die mir an der Untergrundbewegung am besten gefallen: die Beckenschläge, die kreischenden Gitarrenriffs – Musik, die bis ins Blut geht und bei der man sich heiß, wild und lebendig fühlt.
»Gehen wir runter«, sagt Angelica. »Ich will zur Musik.« Sie sucht die Menge ab, ganz offensichtlich hält sie Ausschau nach jemandem. Ich frage mich, ob es derselbe Jemand ist, mit dem sie auf der letzten Party verschwunden ist. Es ist unglaublich, dass es trotz allem, was wir diesen Sommer geteilt haben, immer noch so viel gibt, worüber wir nicht reden und nicht reden können.
Ich muss an Lena und unsere gezwungene Unterhaltung auf der Straße denken. Der inzwischen vertraute Schmerz schnürt mir die Kehle zu. Wenn sie mir doch bloß zugehört hätte; wenn sie wenigstens versucht hätte, mich zu verstehen! Sie müsste die Schönheit dieser Untergrundwelt einmal sehen, dann könnte sie vielleicht auch würdigen, was sie mir bedeutet: die Musik, der Tanz, das Gefühl von Fingerspitzen und Lippen, als würde man fliegen, nachdem man sein Leben lang nur krabbeln konnte …
Ich schiebe den Gedanken an Lena beiseite.
Die Treppe, die in den Keller führt, ist aus grobem Beton. Abgesehen von ein paar dicken Stumpenkerzen, die direkt auf dem Boden stehen und in denen sich
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