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Hana

Hana

Titel: Hana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Luftballons, wie die Überreste einer Geburtstagsparty am Morgen danach.
    »Warte.« Ich lege beide Hände auf seine Brust und schiebe ihn mit Gewalt weg. Sein Gesicht ist ganz rot und er schwitzt. Seine Haare sind schweißnass und sein Pony klebt ihm an der Stirn. »Warte«, sage ich noch einmal. »Ich muss mit dir reden.«
    Ich bin nicht sicher, ob er mich überhaupt hört. Der Rhythmus der Musik hämmert immer noch hinter meinen Rippen und meine Worte sind nur eine weitere Vibration, die daran entlanggleitet. Er sagt etwas – erneut unverständlich – und ich muss mich vorbeugen, um ihn zu verstehen.
    »Ich hab gesagt, ich will tanzen!«, brüllt er. Seine Lippen stoßen an mein Ohr und ich spüre erneut das sanfte Knabbern seiner Zähne. Ich zucke schnell zurück, aber dann tut es mir wieder leid. Ich nicke und lächele, um ihm zu sagen: Okay, tanzen wir.
    Tanzen ist auch neu für mich. Ungeheilte dürfen nicht paarweise tanzen, aber Lena und ich haben manchmal miteinander geübt und die gemessene, ernste Art nachgemacht, mit der wir verheiratete Paare und Geheilte bei offiziellen Anlässen tanzen gesehen hatten: gleichmäßige Schritte im Rhythmus der Musik, mit mindestens einer Armlänge Abstand voneinander, streng und steif. Eins , zwei, drei, eins , zwei, drei, bellte Lena, während ich vor Lachen beinahe erstickte und sie mich mit dem Knie anstieß, damit ich im Takt blieb, und Schulleiter McIntosh imitierte, der sagte, ich sei eine Schande, eine wahre Schande.
    Die Art zu tanzen, die ich kannte, war klar geregelt: Figuren, Haltung, komplizierte Schritte. Aber als Steve mich näher zur Band zieht, sehe ich nichts weiter als eine ungestüme Menge aus wimmelnden, sich windenden Leuten – wie eine vielköpfige Seeschlange –, die sich drehen, mit den Armen wedeln, mit den Füßen stampfen, springen. Keine Regeln, sondern reine Energie – so viel Energie, dass sie, wenn man sie nutzbar machen könnte, Portland sicherlich ein Jahrzehnt lang mit Strom versorgen könnte. Es ist mehr als eine Welle. Es ist eine Flut, ein Ozean aus Körpern.
    Ich tauche ganz darin ein. Ich vergesse Lena und Fred Hargrove und die Flugblätter in ganz Portland. Ich lasse die Musik sich durch meine Zähne bohren, aus meinen Haaren tropfen und durch meine Augäpfel pulsieren. Ich schmecke sie wie Kieselsteine und Schweiß. Unwillkürlich singe ich laut mit. Ich spüre Hände auf mir – Steves? –, die mich packen, den Rhythmus in meine Haut trommeln, die Orte bereisen, die noch nie jemand berührt hat – und jede Berührung ist wie ein weiterer Impuls der Dunkelheit, der auf mein Gehirn einhämmert, bis alle vernünftigen Gedanken zu einem dichten Nebel zerschlagen sind.
    Ist das Freiheit? Ist das Glück? Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Es ist anders – es ist das Leben.
    Zwischen den einzelnen Trommelschlägen wird die Zeit zerhackt, in Einzelteile zersplittert – und gleichzeitig endlos lang, so lang wie dahingleitende Gitarrenklänge, die miteinander verschmelzen, so dicht wie die dunkle Masse der Körper um mich herum. Es ist, als wäre die Luft hier unten zu Flüssigkeit geworden, zu Schweiß, Geruch und Klang, und als wäre ich selbst darin aufgegangen. Ich bin eine Welle: Ich werde in das Ganze hineingezogen. Ich bin Energie und Geräusch und Herzschlag, bumm, bumm, bumm , das Echo des Schlagzeugs. Obwohl Steve neben mir ist und dann hinter mir, mich an sich zieht, meinen Nacken küsst und mit seinen Fingern meinen Bauch erforscht, spüre ich ihn kaum.
    Und einen Moment lang – den Bruchteil einer Sekunde – versinkt alles andere, das ganze Muster und die Ordnung meines Lebens und eine wahnsinnige Freude steigt in mir auf. Ich bin niemand und ich schulde niemandem etwas und mein Leben gehört mir.
    Dann zieht mich Steve von der Band weg und führt mich in eins der kleineren Zimmer, die von dem großen Raum abzweigen. Das erste Zimmer, das mit den Matratzen und dem Sofa, ist brechend voll. Mein Körper fühlt sich immer noch nur entfernt mit mir verbunden an, unbeholfen, als wäre ich eine Marionette, die nicht daran gewöhnt ist, selbstständig zu gehen. Ich stolpere gegen ein Paar, das sich im Dunkeln küsst. Das Mädchen fährt zu mir herum.
    Angelica. Mein Blick huscht instinktiv zu der Person, die sie geküsst hat, und da bleibt die Zeit kurz stehen und geht dann wieder weiter. Ich spüre ein Wippen im Magen, als hätte ich gerade dabei zugesehen, wie die Welt kopfsteht.
    Die andere Person ist

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