Handbuch für anständige Mädchen
sternförmigen Blüten. Die dritte zeigte strahlend gelbe Blumen an einzelnen, stockartigen Stängeln. Das letzte Segment des Papiers beinhaltete eine behaarte, winkelige Pflanze mit kleinen, spitzen Blättern, deren Blüten winzige purpurfarbene Knoten bildeten. Schweigend starrten sie das Papier an.
»Sind das indische Pflanzenarten?«, fragte Tante Lambert nach einer Weile. »Ich erkenne keine von ihnen wieder, falls dem so ist.«
»Nein«, sagte Alice. »Das sind sie nicht.«
»Was sind sie dann?«, sagte Mrs Talbot die Ältere. »Das arme Kind. Warum hat sie uns das hier geschickt?«
»Sie sehen nicht sonderlich interessant aus«, pflichtete Tante Statham ihr bei. »Warum hat sie uns nicht etwas Schönes, etwas Herrliches und Majestätisches geschickt?« Sie versetzte dem Gemälde einen Stoß mit einem knochigen Finger. »Das da sieht wie Unkraut aus. Oder etwas, das Kühe fressen.«
»Befindet sich sonst noch etwas in dem Päckchen?«, erkundigte sich Tante Rushton-Bell.
Alice schüttelte den Kopf.
»Vielleicht ist sie verrückt geworden«, sagte Mrs Talbot die Ältere mit bebender Stimme. »Wie Ophelia. Oh, Alice! Deine arme geistesgestörte Schwester. Wer hätte das gedacht?« Tränen traten ihr in die Triefaugen.
»Sie würde nicht derart malen, wenn sie verrückt wäre«, stellte Tante Lambert fest. »Ebenso wenig hätte sie die Geistesgegenwart besessen, es so sicher zu verpacken und nach England zu schicken. Du meine Güte, Connie, du siehst immer gleich schwarz.«
»Außerdem, Connie, Liebes«, sagte Tante Pendleton sanft, »müssten es Rosmarin und Raute sein, nicht wahr. ›Für die Treue‹? Davon könnten wir bestimmt alle dieser Tage ein wenig gebrauchen. Aber diese Blumen von Lilian sind etwas ganz anderes als Ophelias.«
Alice starrte das Gemälde an. »In gewissem Sinne wie Ophelia«, sagte sie. »Aber sie ist nicht verrückt.« Sie lachte. »O nein, Lilian ist ganz und gar nicht verrückt.«
3
Der Tag war angebrochen, an dem Mr Talbots Abend mit Experimenten, Aufklärung und Bildung stattfinden sollte. Der Schwefel und die Eisenspäne waren mit Wasser vermischt und in einem gewaltigen Loch unter der Erde vergraben worden, den Ballsaal hatte man in ein Museum mit Vortragsraum verwandelt, die Einladungen waren verschickt worden, und man hatte Antworten erhalten. Dr. Cattermole war eingetroffen und hatte einige Fotografien mitgebracht sowie eine Reihe Gläser mit Formaldehyd, und in dieser zähen gelben Flüssigkeit schwammen alle möglichen medizinischen Monstrositäten.
»Ich habe einiges hiervon im Laufe der Jahre in der Medical Society ausgestellt«, vertraute er Mr Talbot an. »Ich habe ein Baby mit zwei Köpfen, müssen Sie wissen.«
Alice war nicht zum Abendessen erschienen.
»Kopfschmerzen«, erklärte Tante Lambert.
»Vielleicht sollte ich nach ihr sehen«, erbot sich Dr. Cattermole, der sich die Hände rieb.
»Sie müssen sich keine Umstände machen«, sagte Tante Lambert rasch. »Es ist gewiss nichts. Sie muss heute Nacht nur gut schlafen.«
Doch zum Frühstück erschien Alice ebenfalls nicht. Nichts, was Tante Lambert vorzubringen hatte, hätte Mr Talbot und Dr. Cattermole davon abgehalten, selbst nachzusehen, was ihr fehlte.
Alice war nicht auf ihrem Zimmer. Sie war nicht im Treibhaus. Mr Talbot murmelte ärgerlich vor sich hin, wie lästig es sei, eine ungehorsame Tochter zu haben. Dicht von Dr. Cattermole gefolgt, pirschte er auf der Suche nach ihr durch die zahlreichen Korridore und Treppen des Großen Hauses.
Einmal bogen sie um eine Ecke und rannten beinahe Mr Bellows um (dessen Anwesenheit Mr Talbot wieder einmal vergessen hatte). Anscheinend hatte Mr Bellows seit mehreren Wochen niemanden außer Sluce zu Gesicht bekommen, und sein Erscheinungsbild hatte sich derart verschlechtert, dass Mr Talbot zuerst zu seinem Entsetzen glaubte, im Obergeschoss seines Hauses auf jemanden gestoßen zu sein, der ganz nach einem Landstreicher aussah. Mr Bellows’ wortreiche Erläuterungen seiner Fortschritte mit der Flugmaschine reizten Mr Talbot nur noch mehr, da er sich kaum einen Reim darauf machen konnte, wovon Mr Bellows überhaupt redete.
»Ja, ja«, fuhr er ihn an. »Sehr gut. Vielleicht würden Sie uns eine Demonstration gewähren, wenn der Wind das nächste Mal günstig ist.« Und er lud Mr Bellows zu dem Treffen der Gesellschaft zur Verbreitung Nützlichen und Interessanten Wissens ein, das im Laufe des Tages stattfinden sollte. »Falls es mir gelingen
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