Handbuch für anständige Mädchen
breiten Wedeln die obersten Scheiben des Treibhausdaches. Alice fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie die Palme fällen müsste. Andererseits sollte sie ihr vielleicht einfach erlauben, durch das Glas ins Freie zu bersten. Was hatte sie schließlich schon zu verlieren?
Ihr wurde bewusst, dass Dr. Cattermole erneut redete. »Aber selbstverständlich, Miss Talbot«, sagte er gerade, »hatte Ihr Vater, als er sich irrtümlicherweise entschied, Forschergeist und Wissensdurst bei Ihnen zu fördern, nicht die leiseste Ahnung, dass er Sie gleichzeitig einen Pfad entlangschickte, der letztlich zwangsläufig zur Degeneration Ihres Geistes und Körpers führen würde.« Er musterte Alice von Kopf bis Fuß, wobei er seine Brille zurechtrückte. Sein Blick verweilte auf ihren großen Händen, den unbestimmten Ausbuchtungen ihres Kleides an den Stellen, wo sich ihr Busen befand. »Ich sehe mich gezwungen, Ihnen mitzuteilen, dass Flachbrüstigkeit und die allgemeine Abwesenheit der weiblichen Gestalt, ein männlicher Gang, Reizbarkeit, ein schlechter Gesundheitszustand – ja, erst gestern Abend konnten Sie aufgrund eines undefinierbaren Leidens nicht bei Tisch erscheinen –, dass all das auf die falsche Art von Bildung zurückzuführen ist, die eine Schwächung des gesamten weiblichen Organismus bewirkt. Ich kann nur Dr. Clarke aus Harvard beipflichten, der feststellt, dass jede Art der Erziehung, die nicht darauf abzielt, ein Mädchen auf das Frausein vorzubereiten, auf Ehe und die Familie, zur Maskulinisierung des Weiblichen führt, was ein hermaphroditisches Leiden zur Folge hat: eine Frau, die ihres Geschlechts beraubt ist, die jeglicher weiblicher Reize entbehrt und zudem, wie ich vermute, ihrer wichtigsten weiblichen Funktionen.«
Alice öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihr Vater legte ihr die Hand auf den Arm. »Es wäre ratsamer zu schweigen«, sagte er. »Schließlich erfährst du vielleicht etwas über dein eigenes Leiden.«
»Welches Leiden?«, zischte Alice. »Mir fehlt nichts.«
»Wenn ich mich erkühnen darf, es zu erklären«, fuhr Dr. Cattermole fort, ohne auf diesen geflüsterten Wortwechsel einzugehen. »Es ist bekannt, dass intellektuelle Arbeit die Versorgung des weiblichen Fortpflanzungsapparats mit Nervenenergie beeinträchtigt. Die Folge dieses Mangels an Nervenenergie? Der Geist rebelliert, ja erleidet gar einen Zusammenbruch. Wahnsinn kann und wird sich einstellen. Auch Fälle von Mannstollheit sind bekannt geworden.« Er senkte die Stimme und beugte sich näher zu ihnen heran. »Ihr Vater hat mich auch davon in Kenntnis gesetzt, dass er vor noch nicht einmal zehn Tagen mit angesehen hat, wie Sie sich Mr Blake dargeboten haben. Ist das keine Degeneriertheit? Ist es keine Zweckentfremdung des weiblichen Fortpflanzungsdrangs?«
Dr. Cattermoles Gesicht befand sich Zentimeter vor Alices, sodass sie seinen warmen, zuckrigen Atem an ihrer Wange spürte. »Mein Vater hat sich getäuscht.« Sie wandte den Kopf in unverhülltem Ekel ab. »Fragen Sie doch Mr Blake, wenn Sie mir nicht glauben.«
»Ich denke nicht, dass Ihr Vater sich getäuscht hat«, zischte Dr. Cattermole. »Und vielleicht lässt sich Mr Blake dazu bewegen, uns die Wahrheit zu sagen – wenn nur der Preis stimmt.«
»Und dieser geistige Zusammenbruch ist unvermeidlich?«, mischte sich Mr Talbot ein. »Mein lieber Cattermole, das haben Sie mir nicht gesagt, als Sie mir die Situation das erste Mal erläutert haben.«
»Ich habe Rücksprache gehalten«, sagte Dr. Cattermole. »Ich habe einige Kollegen konsultiert. Diejenigen, die auf nervöse Leiden bei Frauen spezialisiert sind, hegen keinen Zweifel.«
Alice schluckte. Gab es etwas, das sie tun oder sagen konnte, um sich zu retten? Vielleicht sollte sie in Ohnmacht fallen oder weinen oder in die Knie sinken und um Vergebung bitten. Sollte sie den Blick senken und nichts sagen? Sollte sie ihren Vater dazu aufrufen, einzuschreiten und die Bildung zu verteidigen, mit der er sie, bis vor Kurzem, so großzügig versorgt hatte? Doch sie tat nichts dergleichen. Sie wusste, dass über ihr Los, was immer es sein mochte, bereits entschieden worden war. Es war bestimmt besser, wenn sie herausfand, worum es sich handelte. »Und was sind die Symptome?«, wollte sie wissen. »Welche Beweise haben Sie?«
Dr. Cattermole zog schwungvoll ein Buch aus seiner Tasche und blätterte darin herum. Über seine Schulter sah Alice, dass die Ränder mit zahlreichen Anmerkungen im
Weitere Kostenlose Bücher