Handbuch für anständige Mädchen

sollte, meine Tochter aufzutreiben.«
     
    Mr Talbot und Dr. Cattermole fanden Alice an ihrem Schreibtisch in dem Bambusdickicht neben dem Dschungelsalon vor. Tante Pendleton döste geräuschvoll in einem Sessel, der auf einem der gusseisernen Lüftungslöcher der Heizung stand. Der Pfirsichbaum ließ seine Früchte über ihrem Kopf baumeln.
    Als Alices Vater und sein Freund anfänglich hier nach ihr gesehen hatten, hatte sie sich auf einem der Laufgänge befunden, die oben um den Wintergarten führten. Da sie wusste, wie sehr die glühende Hitze des Treibhauses ihrem Vater verhasst war, hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie zurückkehren würden.
    »Da bist du ja«, grunzte Mr Talbot gereizt. »Komm mit uns mit.«
    »Lassen Sie es gut sein, Talbot«, sagte Dr. Cattermole und trat einen Schritt vor. »Wir haben schon genug Zeit verschwendet, und ich muss noch meine Exemplare in eine gewisse Ordnung bringen. Miss Talbot. Alice, wenn Sie gestatten, kommen wir zur Sache. Es gibt da einige Tatsachen bezüglich Ihrer Gesundheit, sowohl geistiger wie physischer Natur, die nicht länger außer Acht gelassen werden dürfen.«
    Alice ließ den Blick vom erhitzten und zornigen Gesicht ihres Vaters zu Dr. Cattermole gleiten und wieder zurück, sagte jedoch nichts.
    »Wie Sie wissen«, fuhr Dr. Cattermole fort, »ist es schon immer der Wunsch Ihres Vaters gewesen, dass Ihnen eine gewisse Bildung widerfährt, dass Sie sich vollständig mit den Inhalten seiner Sammlung und ihrer jeweiligen Bedeutung auskennen. Allerdings ist im Laufe der Zeit sowohl ihrem Vater wie auch mir aufgefallen, dass diese Form der Bildung – die Anhäufung von Wissen einer ausgesprochen undamenhaften Natur – Sie auf höchst bedauerliche geistige und physische Abwege geführt hat. Frauenbildung ist schön und gut. Schließlich wollen wir nicht, dass die Mütter künftiger Generationen unkundig sind über die Prinzipien der Moral und des Anstands, welche die allerschönste Gabe bilden, die die Frau der Gesellschaft zu bieten hat. Doch es muss sich um die richtige Art von Bildung handeln. Ich beziehe mich natürlich auf die Bedeutung der verschiedenen weiblichen Künste – Kochen, Handarbeit, ein Augenmerk auf religiöse Frömmigkeit.«
    »Kochen und Handarbeit?«, sagte Alice, die von Dr. Cattermoles detailliertem Vortrag verwirrt und ein wenig gelangweilt war.
    »In der Tat.« Dr. Cattermole nickte. Er musterte Alice prüfend. »Meine liebe Miss Talbot – und Ihrem Herrn Vater habe ich genau das Gleiche gesagt –, es sind verbildete Frauen, die für den Großteil der Abwärtstendenzen der mittleren Schichten verantwortlich sind.«
    »Ich hatte ja keine Ahnung, Cattermole«, murmelte Mr Talbot schuldbewusst. »Es schien nichts schaden zu können.«
    »Eingangs vielleicht nicht«, sagte Dr. Cattermole. »Doch das Verhalten Ihrer Tochter Lilian hätte Ihnen den Irrtum einer derart liberalen Erziehung zum Bewusstsein bringen sollen. Zu guter Letzt ist ihre sexuelle Lust geradezu ungezügelt gewesen, ihr Verlangen, Ihre Autorität infrage zu stellen und herauszufordern, kannte keine Grenzen. War das etwa das Benehmen einer Frau, die sich in moralischem Empfinden und Anstand hervortat?«
    »Wohl eher nicht, wenn Sie es so ausdrücken«, sagte Mr Talbot.
    »Was hat denn eine liberale Erziehung mit sexueller Lust zu tun?«, sagte Alice, die nun unwillkürlich neugierig geworden war.
    Dr. Cattermole schürzte die Lippen. »Ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie das verstehen. Bestimmt muss ich nichts weiter sagen.«
    »Sie müssen noch sehr viel mehr sagen, würde ich meinen«, erwiderte Alice. »Ich habe nämlich keine Ahnung, was Sie meinen.«
    »Dr. Cattermole hat ganz deutlich gesagt, was er meint«, schnauzte Mr Talbot sie an. Er räusperte sich und tupfte sich nervös den Hemdkragen mit seinem Taschentuch ab. »Aber Alice kann gerettet werden, Cattermole, oder etwa nicht?«
    »Vielleicht.« Dr. Cattermole betrachtete Alice, bis sie den kalten, blauen Augen ausweichen musste, die hinter seiner Brille glitzerten.
    Sie erschauderte und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Palme, die hinter ihm aufragte. Ihre Mutter hatte die Palme nur eine Woche nach Fertigstellung des Treibhauses angepflanzt. Das war jetzt beinahe fünfunddreißig Jahre her. In Abwesenheit tropischer Stürme, die sie umwehen könnten, oder irgendwelcher Menschen, die ihr Holz für Häuser oder Boote benötigten, war die Palme gediehen. Mittlerweile berührte sie mit ihren