Handbuch für anständige Mädchen
von einer Seite auf die andere bewegte, um sie mit einer Mischung aus Äther und Schießbaumwolle zu bedecken. Sie hörte nicht, wie die Tür aufging, spürte aber einen Luftzug und bemerkte, wie ein Strahl schattigen Tageslichts auf ihren Arbeitstisch fiel.
»Eigentlich solltest du anklopfen«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Stell dir nur vor, ich wäre gerade beim Entwickeln gewesen. Das Bild hätte verloren gehen können.«
»Und Sie hätten einfach noch eines aufgenommen.«
Überrascht ließ Alice die Glasplatte fallen. »Mr Blake«, flüsterte sie. »Wenn mein Vater Sie hier erwischt …«
»Ich werde nicht lang bleiben«, sagte er und schloss die Tür leise hinter sich. Er ergriff ihre Hände und versuchte, seinen Blick nicht von der Ätherflasche ablenken zu lassen, die auf ihrem Arbeitstisch stand. Die Dämpfe in der Dunkelkammer hatten seinen Durst danach bereits geweckt, während ihm von der Hitze schwindelig wurde. Er blinzelte und schluckte. Im schwachen Licht der Spirituslampe sah Alice anziehender aus, als er sie in Erinnerung hatte … Doch hatte er sie nicht aufgesucht, um ihr entscheidende Informationen zukommen zu lassen? In seinen Ohren war ein Summen, und sein Kopf schien auf einmal bleischwer zu sein.
»Alice«, sagte er eindringlich, »zwischen Ihnen und mir gibt es keine Geheimnisse mehr. Sie sind eine Frau, und das ist ganz klar. Mir jedenfalls. Was ich damit sagen will, ist, als Sie mich letztens des Nachts in meinen Gemächern aufgesucht haben, hegte ich gewisse Zweifel. Doch jetzt, da ich Ihr … Ihr … Geschlecht gesehen habe, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, es so zu nennen, jetzt, wie ich schon sagte, nicht mehr. Will sagen, ich hege keinerlei Zweifel mehr. Ja, ich bin mir ganz sicher. Sie sind eine Frau.« Er streckte eine Hand aus, um sich abzustützen. »Es gibt selbstverständlich Aspekte meines früheren Verhaltens, die ich lieber geändert sähe, Dinge, die ich getan habe, Handlungen meinerseits, von denen es mir lieber wäre, Sie wüssten nicht darüber Bescheid. Doch ich kann die Uhr nicht zurückdrehen.« Die Dämpfe in der Dunkelkammer schienen seine Gedanken zu verwirren, seine eigentlich gut vorbereitete Rede ging ihm wie dummes Geschwätz von den Lippen. Noch während er zögerte, spürte er, wie sein nächster Satz aus seinem Kopf verdampfte, bevor er ihm auf der Zunge lag. Ihre Miene verriet nichts. »Was ich damit sagen will, ist, dass wir jetzt vielleicht auf gleicher Stufe stehen. Würden Sie die Güte haben, mir meine Fotografien zurückzugeben? Oh, und werden wir immer noch heiraten?« Er taumelte dicht an sie heran. »Ich finde, wir sollten es tun.«
Alice hielt sich den Fotografen auf Armeslänge vom Leib, während er vor ihr hin und her schwankte. Mit der freien Hand griff sie unter den Arbeitstisch und zog eine kleine Mappe hervor. Sie reichte sie ihm. »Ihr Schrankkoffer befindet sich auf meinem Zimmer«, sagte sie. »Ich werde Sluce anweisen, ihn unverzüglich zu Ihnen zu bringen.«
Mr Blake riss Alice die Mappe aus der ausgestreckten Hand, wie sich vielleicht ein Verhungernder auf eine Scheibe Brot gestürzt hätte. Er schlug sie hastig auf. Zwei gewaltige Sepiabrustwarzen starrten ihn wie vorwurfsvolle Augen an.
Er schloss die Mappe hastig wieder, bevor er aus der Dunkelkammer in die kühle belaubte Ruhe des Wintergartens torkelte.
Alice goss Mr Blake ein Glas Wasser ein.
»Danke«, sagte er nach einer Weile.
»Und ich danke Ihnen für Ihr überaus ritterliches Verhalten mir gegenüber, als ich mich Ihnen in Ihrem Zimmer gezeigt habe. Und dafür, dass Sie meinem Vater gegenüber geleugnet haben, ich hätte es getan.«
»Er ist weiterhin von dem überzeugt, was er gesehen hat.«
»Er hat keinerlei Beweise.«
»Er braucht keine.« Mr Blake setzte sich auf. »Alice, ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, dass Cattermole kommt. Er hat Pläne mit Ihnen, mit der Erlaubnis Ihres Vaters, aber ich habe keine Ahnung, worum es geht.«
»Dr. Cattermole hat sich schon immer für mich interessiert. Ich glaube, er will mich auch zum Sujet seiner Fotografien machen.«
Mr Blake zuckte zusammen. »Tatsächlich?«
»Das hat mir seine Gattin verraten. Sie sagt, seine Herangehensweise sei höchst professionell und wissenschaftlich.«
»Sie dürfen auf gar keinen Fall einwilligen, sich von ihm fotografieren zu lassen.«
»Dann sollte ich vielleicht mit Ihnen nach London reisen.«
»Aber ich kann nicht nach London. Ich soll meine Fotografien der
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