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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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der Luft, ein Gestank nach Verkohltem, der anders war als die gewöhnlichen Gerüche nach Kochstellen, Gewürzen und ghee und Abfällen. Sie blickte zum Himmel auf und sah, dass er von aufwallenden Wolken verdunkelt war. Rauch kam vom Fluss her, nördlich der europäischen Enklave. Die Kaserne brannte.
    Lilian drängte ihr Pony in eine Gasse, die auf einem Umweg zum dak- Bungalow führte, weg von der sepoy- Kaserne und in entgegengesetzter Richtung zur europäischen Ansiedlung. Wenn es ihr nur gelänge, die große Hauptverkehrsstraße zu erreichen, könnte sie nach Norden und Westen reisen, hinaus aufs Land und fort von dem Chaos. Noch während sie beschloss, so zu verfahren, torkelte eine Gruppe Männer am anderen Ende der Gasse ins Blickfeld. Sie trugen nicht das übliche Gewand der Basarstrolche, sondern rote Jacken und weiße Kreuzbandelieren der Native Infantry. Einer hielt eine brennende Fackel. Er umfasste sie ungelenk, und als Lilian ihr Pony anhielt, erkannte sie zu ihrem Entsetzen, dass es sich nicht um eine brennende Fackel handelte, sondern um einen menschlichen Arm, in Rot gekleidet und mit einer weißen Hand, die wie ein nasser Handschuh aus dem Ärmelaufschlag baumelte. Mit dem brennenden Arm setzte der sepoy jeden Stand in Brand, an dem er vorüberging, und die Rauchschwaden schwollen tanzend hinter ihm an, als trete er aus den Wolken der Hölle.
    Der Anblick war so irreal, dass Lilian flüchtig an die Sammlung von Gliederprothesen erinnert wurde, die in einer makabren Galerie hölzerner Gebärden eine Schauvitrine im Haus ihres Vaters füllte. Vielleicht war dies eine Prothese, sagte sie sich auf der verzweifelten Suche nach einer rationalen Erklärung. Doch sie wusste, dass dem nicht so war. Wie zerbrechlich wir sind, dachte sie, und ihr wurde schwindelig. Wie substanzlos unsere Körper sind, dass man uns so ohne Weiteres wie eine Marionette zergliedern kann.
    Auf einmal schoss ein britischer Offizier wie aus einem Kaninchenbau vor den sepoys in die Gasse. Er rannte von ihnen weg auf Lilian zu. Es war niemand, den Lilian kannte, andererseits war sein Gesicht zu einer solchen Maske der Wut und Angst verzerrt, dass sie ihn nicht wiedererkannt hätte, selbst wenn es sich um einen der Offiziere gehandelt hätte, dessen Lächeln sie bei so vielen Gelegenheiten an Mrs Birchwoodes Tafel erblickt hatte. Die kirschrote Uniform des Mannes war zerrissen und dreckig, sein Gesicht von einer klaffenden Wunde über den Augen blutüberströmt, und seine Machete und Pistole waren fort. Da die sepoys jetzt hinter ihm schrien und ihre Säbel schwangen, rannte er blind in Richtung von Lilians Pferd.
    Lilian sah das Entsetzen in den Augen des Offiziers, als er sie anstarrte. Sie verstellte ihm den Weg, ihr Gesicht war vom Rauch verrußt und blutbespritzt, ihre Pyjamahosen hatten sich karmesinrot verfärbt. Er versuchte stehen zu bleiben, doch seine Stiefel rutschten auf einer Ladung Trockenerbsen aus, und er rutschte weiter vorwärts, seine Beine ruderten durch die Luft, während die Erbsen wie Kugellagerkugeln unter seinen dahingleitenden Füßen auseinanderstoben. Lilian zerrte an den Zügeln. Mit einiger Schwierigkeit gelang es ihr, das Pferd in der schmalen Gasse zu wenden, und ohne abzuwarten, ob der Offizier ihr folgte oder ob er von dem schreienden Pöbel verschluckt wurde, jagte sie zurück auf die Hauptstraße des Basars.
    In dem kurzen Zeitraum hatte sich der Rauch zu einer Übelkeit erregenden, öligen Dunstglocke verdichtet. Stände waren angezündet worden, brannten lodernd und fügten dem Gestank der Zerstörung, der die Luft ohnehin schon erfüllte, noch beißende Dämpfe hinzu. Links von ihr vermischte sich das Geräusch explodierenden Glases von einem Limonadenverkäufer mit dem Knacks-Knacks-Knacks der unbeaufsichtigten Kochstellen eines bhaji- Verkäufers daneben. Die Leiche eines Soldaten, der rote Rock blutbeschmiert und das Gesicht zerschmettert wie eine Wassermelone, lag ausgestreckt im Staub. Zu beiden Seiten plünderte ein Mob sepoys in Uniformen, die grau vor Schmutz waren, Stände und warf aufgestapelte Körbe, Kisten mit Gemüse, Krüge mit Getreide und Öl um, schlicht alles, was ihnen im Weg stand.
    Auf der Suche nach einem Weg durch den Pöbel wirbelte Lilian ihr Pferd herum. Ihre Sinne waren kaum fähig, die Geschehnisse aufzunehmen. Erst gestern hatten sie eine friedliche Bootsfahrt zum botanischen Garten unternommen. Heute hatte sich Kushpur binnen weniger Minuten in ein Schlachthaus

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