Handbuch für anständige Mädchen
waren ihr Gesicht und ihre Hände gebräunt, sodass sie mittlerweile geradezu dunkelhäutig wirkte. Ihre hellen Haare waren weggesteckt, und so wirkten nur noch Lilians blaue Augen fehl am Platz. Hinten an den Sattel ihres Ponys geschnallt, transportierte sie einen Segeltuchbeutel mit Nahrungsmitteln, einen Kochtopf und ihre Farben, mehrere Papierrollen und eine zusammenklappbare Staffelei sowie eine sorgfältig getroffene Auswahl der Zeltausrüstung, die Selwyn als Vorbereitung auf seine Reise in den Pandschab bei den Calcutta Army and Navy Stores bestellt hatte. Über ihrer Schulter hing Tante Lamberts Gewehr, frisch geölt und geladen und schussbereit. Sie hatte außerdem eine Pistole und eine Munitionsschachtel in einem kedgeree- Topf unten in ihrem Kleiderschrank verborgen gefunden – ein Überbleibsel, wie sie annahm, von dem auf mysteriöse Weise entschwundenen Mr Gilmour. Diese Waffe hatte sie gereinigt und geladen, und trug sie jetzt in den Gürtel gesteckt, neben einem gekrümmten Messer, das sie auf dem Basar erworben hatte.
Lilian hatte ihre drei Verehrer in ihrem Salon zurückgelassen. Sie konnte sich recht gut vorstellen, weswegen sie gekommen waren, hegte jedoch kein Interesse, Genaueres zu erfahren. Sie hatte Harshad befohlen, die Gentlemen in den Salon zu führen, und dann hatte sie sich fortgestohlen, wie sie es ohnehin vorgehabt hatte, nachdem sie Harshad die Order gegeben hatte, nichts über ihren Verbleib zu sagen, und ihm ganze zwei Monatsgehälter für seine Kooperation im Voraus bezahlt hatte.
Harshad war seine Sorge anlässlich ihrer Abreise anzumerken. »Bitte, memsahib Lilian«, sagte er mit tränenerstickter Stimme und bediente sich des Englischen, als wäre dies vielleicht überzeugender. »Verlassen Sie diesen Ort nicht. Es geben Ärger, ganz gewiss. Die verdammten chapattis bedeuten höchst schrecklichen und verfluchten Ärger. Bitte bleiben Sie hier und bleiben in Sicherheit in Bungalow. Bedecken Sie Fenster. Sperren Tür zu, verdammt noch mal.« Seine Augen leuchteten angesichts eines jäh aufkeimenden Gedankens. »Verstecken Sie sich in verflixter Waschküche!«, rief er. »Ja!«
»Du meine Güte, Harshad«, sagte Lilian überrascht. »Ich brauche doch nicht die Türen zu verbarrikadieren und mich in der Waschküche zu verstecken, um den Aufmerksamkeiten des Arztes und des Friedensrichters zu entgehen. Und ich habe bereits ein paar chapattis in meiner Satteltasche, als Wegzehrung.«
»Es geben Ärger«, wiederholte Harshad. »Bitten bleiben Sie hier in Bungalow.«
Doch Lilian ließ sich nicht überreden. Sie trug Harshad auf, er solle den Inhalt der Waschküche und der Speisekammer seiner Ehefrau bringen und die anderen Dienstboten ausbezahlen. Sollte noch Geld übrig sein, wenn er dies getan hatte (und Lilian hatte sichergestellt, dass dem so wäre), sollte er es behalten.
»Halten Sie sich an vermaledeite Hauptverkehrsstraße« sagte Harshad kopfschüttelnd. »Sprechen Sie mit niemandem Verfluchte Banditen und gewalttätige Bastarde überall. Tiger auch höchst wild. Reiten Sie auf jeden Fall verflucht schnell und zielstrebig, um Männer und Tiere zu vermeiden.« Er ergriff ihre Hände und sank vor ihr auf die Knie. »Dann heißt es auf Wiedersehen, memsahib Lilian. Auf Wiedersehen, verdammt noch mal.«
Als sich Lilian ihren Turban um den Kopf wickelte, hatte sie von ihrem Schlafzimmerfenster aus gesehen, wie Mr Hunter über den Maidan wieder auf ihren Bungalow zugeritten kam. Würde sie ihn vermissen? Vielleicht. Wie lange würde es dauern, bevor einem der Europäer klar wurde, dass sie fort war? Nicht lange. Nicht dass es einen Unterschied machte. Sie konnten nichts tun, um sie aufzuhalten.
Lilian atmete tief ein und spürte, wie sich ihre Brust dehnte, ohne die beengende Schnürung und Miederwaren. Sie hatte Pläne geschmiedet, Alice von ihrem Vater fort und nach Indien zu schaffen, und endlich war sie dabei, diese Pläne in die Tat umzusetzen. Vielleicht könnten sie und Alice für immer Männerkleidung tragen, dachte sie, während sie auf die Eingeborenenstadt zuritt. Sie würden sich die Haare abschneiden und im Herrensitz reiten. Es war erlösend, nicht mehr von so vielen Schichten komplizierter Frauenkleidung behindert zu werden, von den Erwartungen und Beschränkungen befreit zu sein, die mit dem Frausein verbunden waren. Ein Mann konnte überallhin gehen, alles Mögliche sagen, ohne auch nur eine hochgezogene Augenbraue oder einen missbilligenden Blick zu
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