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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Neben ihm lag ausgestreckt ein toter sepoy, dessen linker Arm so gut wie fehlte. Nur ein zerfetzter Stumpf war geblieben, der aus der zerrissenen Schulter seiner Uniformjacke ragte. Lilian wandte den Blick ab. Sie richtete ihre Gedanken auf den dak- Bungalow, einen Ort, den sie häufig besucht hatte, um nachzusehen, ob Post von Alice eingetroffen war. Oh, Alice! Was hätte sie getan, wäre sie an ihrer Seite gewesen, wie sie es früher immer gewesen war? Alice hätte einen kühlen Kopf bewahrt, egal, was passierte. Sie hätte sich ihren Weg zum dak mit schussbereiter Pistole durch die ruhigsten Straßen gesucht. Sie hätte Mr Hunter ausfindig gemacht und darauf bestanden, dass er half, und sie hätte keinerlei Widerrede geduldet. Alice hatte Mr Hunter schon immer durchschaut. Mr Hunter ist ein Abenteurer, hatte sie gesagt. Ein Mann, der nur auf sein eigenes Interesse bedacht ist, der weiß, wie man schnell und so einfach wie möglich Ärger entgeht. Er wird alles tun, um seine eigene Haut zu retten. Lilian empfand die Erinnerung an die Worte ihrer Schwester unerwartet trostreich.
    Doch der dak- Bungalow stand in Flammen. Eine Menge hatte sich davor versammelt und jubelte. Ein betrunkener sepoy, der mit einer Flasche Arrak herumfuchtelte, stand auf der Brust eines toten Offiziers, um das Inferno besser sehen zu können. Der Anblick ließ Lilian beinahe in Ohnmacht fallen. Sie schwankte in ihrem Sattel, hielt sich allerdings irgendwie doch aufrecht. Das Dach des dak- Bungalows fiel zusammen und sandte einen Wirbel tanzender Funken in die verrauchte Luft.
    Sie beschloss, in die Kolonie der Europäer zurückzukehren. Möglicherweise befand sich Mr Hunter noch dort, schmiedete vielleicht just in diesem Moment einen Plan, um die blutdürstigen Inder zu überlisten und alle in Sicherheit zu bringen. Schließlich hatte er die Einheimischen immer schon besser verstanden als alle anderen (das hatte er ihr selbst mehrfach gesagt). Und überhaupt, wer außer ihren europäischen Landsleuten würde ihr Zuflucht vor dem Blutbad gewähren?
    Der sepoy, der auf dem toten Offizier stand, beobachtete sie misstrauisch. Seine Hand wanderte zu dem Messer, das im Gürtel seiner Hose steckte. Er schwenkte seine Flasche mit Arrak in Lilians Richtung und befahl ihr schreiend, auf das Ende der Herrschaft des Sircars zu trinken.
    »Shabash!«, rief Lilian matt. »Tod dem Sircar !« Sie schwenkte ihre Machete und feuerte ihre Pistole in die Luft ab. Diese Zurschaustellung schien ihn zu befriedigen, und er fing nun an, auf der Brust des Offiziers herumzuhüpfen wie ein Affe auf einem Leierkasten.
     
    Mr Hunter hatte die europäische Kolonie kaum hinter sich gelassen, als ihn eine Bande bewaffneter sepoys angriff. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, seine eigene Dummheit zu verfluchen, bevor ihn etwas am Hinterkopf traf und er vom Sattel zu Boden glitt.
    Als er wieder zu Bewusstsein kam, lag er in einem Straßengraben. In seinem Kopf hämmerte ein pochender Schmerz, und er konnte nur verschwommen sehen. Wie lang hatte er hier gelegen? Er hatte keine Ahnung. Unsicher erhob er sich. Der Himmel wirkte beinahe dunkel, auch wenn er sich nicht sicher war, ob dies am Rauch lag (den er jetzt in der Luft schmecken konnte und der seine Augen schmerzen ließ und ihn in der Kehle kitzelte) oder einfach am Einbruch der Nacht oder ob es gar eine optische Sinnestäuschung war, die von dem Schlag herrührte, den er am Schädel erlitten hatte. Er betastete seinen Kopf. Seine Haare waren hinten blutverklebt, und eine Unmenge Blut war ihm aus einer Wunde über seinem Auge das Gesicht hinab und auf sein Hemd geströmt. Mr Hunter zog sich behutsam das verdreckte Hemd über den Kopf. Noch immer rann ihm Blut vom Haaransatz in die Augen, und er zerriss das Hemd und wickelte es sich als behelfsmäßigen Verband um den Kopf. Seine neuen Kalbslederbreeches waren braun vor Staub und am Oberschenkel weit aufgerissen. Ihm tat jeder Knochen im Körper weh. Sein Kopf fühlte sich an, als ginge darin gerade eine Kanone los.
    Er war bloß nicht tot, entschied er, weil seine Angreifer irrtümlicherweise geglaubt hatten, der Hieb auf seinen Kopf sei tödlich gewesen. Er sah sich um. Sein Pferd war verschwunden, sein Träger war geflohen, sein sa’is lag, mit dem Gesicht nach unten, ein paar Meter weiter auf der Straße. Sein eigenartig und unnatürlich angewinkelter Körper verriet, dass er nicht so viel Glück wie sein Herr gehabt hatte. Mr Hunter stöhnte auf, als sich die Welt um

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