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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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ernten.
    Warum sollten sie und Alice nicht das Gleiche tun?
    Das Pony schüttelte ängstlich den Kopf.
    Lilian tätschelte ihm den Hals. »Du stimmst mir also zu, Junge?« Sie lächelte und fragte sich, was für ein Pony sie Alice besorgen sollte – es würde eines sein müssen, das zu der athletischen Figur und dem energischen Wesen ihrer Schwester passte. Lilian stellte sich Alice im Herrensitz auf einem feurigen Fuchs vor, ihre langen Beine in Breeches, die Zügel in ihren starken Händen … Zusammen würden sie hinreisen, wohin auch immer sie wollten.
    Lilian musste den Basar überqueren, um die offene Straße zu erreichen. Sie ritt durch die Menge, ohne belästigt oder bemerkt zu werden. Doch dass Lilians Anwesenheit auf dem Basar keine Beachtung geschenkt wurde, lag nicht an ihrer Einheimischenkleidung, und sie war noch nicht weit gekommen, als sie aus dem gewöhnlichen Getöse und Geschnatter eine andere Art von Unruhe heraushörte. Die Gesichter, die an ihr vorüber kamen, sahen beklommen aus: die Augen weit aufgerissen, die Mienen besorgt. Sie spürte ein Kribbeln im Nacken, als Schreie, das Getrampel von Füßen und das Krachen umgeworfener Waren durch die schmalen Gassen hallten. Zweifellos handelte es sich bloß wieder einmal um eine Schlägerei, sagte sie sich, eine Auseinandersetzung zwischen paschtunischen Banditen oder marathischen Pferdedieben, die zu etwas Ernsterem ausgeartet war. Indien war voller einäugiger Männer und Narbengesichter, genau wie es in Dr. Mosslys Hospital Messerstiche und abgerissene Ohren zuhauf gab. Ständig ereigneten sich Gewalttaten, und der Basar von Kushpur bildete da keine Ausnahme. Lilian ritt weiter.
    Doch während sie sich einen Weg durch die belebte Durchgangsstraße bahnte, wurden die Rufe und Schreie lauter – kamen näher und wurden eindringlicher. Die Menge wogte gegen ihr Pony. Der Lärm wurde stärker, und es war ein Lärm, der, wie Lilian jäh klar wurde, nicht von feilschenden Einheimischen oder den Rufen von Marktverkäufern stammte, es war der Klang von Wut und Angst, von Gewalt und Zerstörung, und er schien nicht von einem bestimmten Bereich des Basars zu kommen, sondern von allen Seiten.
    Lilian hielt ihr Pony an. Vielleicht hatte Mr Hunter recht. Vielleicht wehte wirklich ein Hauch von Rebellion durch den Basar. Vielleicht waren die Nabobs mit dem Sircar unzufrieden. Mr Hunter hatte ihr des Öfteren höchst leidenschaftlich von dem Thema erzählt. Vielleicht hätte sie auf Harshad hören sollen? Andererseits drehte sich Harshads Welt, wie die so vieler einheimischer Dienstboten, um seine memsahib und die Bedürfnisse ihres Haushalts. Gewiss hätte er keine Ahnung von oder auch nur Interesse an Gerüchten aus den Kasernenstuben über die sepoys und die Unzufriedenheit von Prinzen?
    Ihre Finger schlossen sich um den ungewohnten Griff von Mr Gilmours Pistole. Würde sie gezwungen sein, sich zu verteidigen? War ihre Kluft ein Fehler? Weiße Haut stellte einen Schutz vor allem dar – abgesehen natürlich von Cholera und Insekten, ja, noch nicht einmal die Thugs hat ten Europäer angegriffen – jedenfalls hatte Mrs Birchwoode ihr das erzählt. Unsicher spähte Lilian in das Meer besorgt dreinblickender Gesichter, das um ihre Knöchel auf- und niederwogte. Auf einmal war sie sich nicht mehr so sicher.
    Ganz unvermittelt rannten die Leute los – von links nach rechts, in Gassen hinein oder hinaus, auf den Lärm zu und weg davon. Ein hektisches Gewimmel wirbelte und kämpfte um die Beine ihres Ponys wie von der Flut getragenes Treibgut. Musketenschüsse erschollen über dem Getöse. Die Menge drängte vorwärts. Lilians Pony bäumte sich ängstlich auf. Lilian klammerte sich an seiner Mähne fest, um nicht in den Mahlstrom abgeworfen zu werden. Eine Frau mit einem Baby taumelte vor sie und verfehlte nur knapp die durch die Luft wirbelnden Hufe. Ein Mann zog an ihrem Bein und versuchte, sie aus dem Sattel zu werfen und zu Boden zu zerren. Bevor sie wusste, was sie tat, zog sie das Messer aus dem Gürtel und stach nach den Fingern des Mannes. Er taumelte zurück, die blutende Hand umklammert, und fiel zu Boden, wo er augenblicklich in der brodelnden Menge verschwand, ähnlich wie ein Mann, der bei hohem Wellengang über Bord gegangen war. Lilian schrie auf, gab dem Pony die Sporen und drängte es vorwärts, wobei sie mit dem Messer nach Händen und Armen stach, die nach ihr griffen.
    Dann fiel ihr etwas anderes auf. Mittlerweile lag ein deutlicher Geruch in

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