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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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weniger Augen von ihrem Versteck wussten, desto besser.
    Endlich erschien ihr Vater hinter dem Rednerpult, das auf dem erhöhten Podium stand. Er hieß alle dröhnend willkommen … wie erfreut er sei, so viele ehrwürdige Mitglieder der Gesellschaft in seinem bescheidenen Zuhause begrüßen zu dürfen. Wie er hoffe, sie mögen die Artefakte, die er im Ballsaal und den umliegenden Korridoren versammelt habe, höchst anregend finden … Immer und immer weiter schwafelte er von der Großartigkeit menschlicher Errungenschaften in Kunst und Wissenschaft, der Notwendigkeit, durch Ausstellung und Unterricht aufzuklären, der Bedeutung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder in dieser aufklärerischen Rolle … Alice ließ sich gegen die Wand fallen. Sie hatte das Ganze schon so oft gehört.
    »Allerdings steht der heutige Nachmittag unter einem medizinischen Thema«, donnerte Mr Talbot.
    Alice sprang auf.
    »In diesem Saal stehen gewisse Instrumente und Geräte verteilt, die die Verbesserung des menschlichen Körpers betreffen. Werkzeuge – Messer, Klingen und Skalpelle –, die dazu gemacht sind, Operationen am Unterleib oder das schnelle Entfernen unnatürlicher Wucherungen zu erleichtern. Geräte – Inhalatoren und dergleichen – zur Verabreichung von Opiaten und anderen Arzneien, neue und ausgeklügelte Gliederprothesen, nicht zuletzt eine falsche Nase, Augäpfelnachbildungen in allen Größen und Farben und eine künstliche Hand. Ich könnte Ihre Aufmerksamkeit auch auf einen künstlichen Blutegel lenken, der einem infizierten Patienten schmerzlos Blut absaugen kann, ein höchst einfallsreicher Stuhl mit Hebelvorrichtung zum Zähneziehen und eine Magenpumpe, von der es mehrere nützliche Versionen gibt.«
    Es kam Gemurmel auf, und die Leute nickten.
    »Dr. Thomas Cattermole wird dieses Treffen mit einer Diskussion über neue Entwicklungen in der Chirurgie als Mittel zur Kontrolle gewisser gesellschaftlicher Übel leiten. Im hinteren Teil des Saals werden Ihnen zahlreiche Glasgefäße aufgefallen sein, die Dr. Cattermoles persönliches anatomisches Museum enthalten. Ich hoffe, Sie werden diese Gelegenheit nutzen und sich verschiedene Extremfälle und Wunder menschlicher Krankheiten und Missbildungen ansehen.«
    Alice erspähte Dr. Cattermole. Er sah gereizt aus, sein Gesicht war rot im Kerzenschein, sein Mund ein dünner zusammengepresster Strich. Außerdem war ihr aufgefallen, dass Dr. Cattermoles anatomisches Museum in Wirklichkeit wenig Aufmerksamkeit erregte, als ließen sich die anwesenden Mitglieder der Gesellschaft die möglichen Unzulänglichkeiten und Fehlfunktionen ihrer eigenen nur zu schwachen Körper bloß sehr ungern ins Gedächtnis rufen.
    »Dr. Cattermole hat seine Laterna magica mitgebracht und wird diesen Vortrag mit von ihm selbst gemachten Fotografien und Statistiken veranschaulichen.«
    Es gab eine Runde Beifall, als sich Dr. Cattermole erhob. Auf sein Zeichen hin wurden die Lampen und Kerzen gelöscht. Er öffnete eine Schachtel und entnahm eine Glasplatte, die er hinter die Vergrößerungslinse seiner Laterna magica schob. Die Fotografie einer verwirrt dreinblickenden Frau mittleren Alters erschien an der Wand hinter ihm. Es war ein Gesichtsausdruck, den Alice wiedererkannte: Er entstand, weil sich das Modell bemühte, für die Dauer der Belichtung mit offenen Augen stillzusitzen.
    »Die Manie«, setzte Dr. Cattermole an, »steht überall in diesem Land kurz vor dem Siegeszug durch das empfindliche Gleichgewicht des weiblichen Geistes.«
    Alice roch Sluce, bevor sie ihn erblickte. Ein dumpfer, erdiger Geruch, eine Mischung aus Schlamm und abgestandenem Essen, aus Schweiß und fauligen Zähnen. Sie drehte sich um. Er stand direkt hinter ihr, mit halb triumphierender, halb ungläubiger Miene. Er öffnete die welken Lippen, um zu rufen, dass er sie endlich gefunden habe, und zwar direkt vor ihrer aller Nasen. Alice zögerte nur eine Sekunde, während ihre Finger sich um die glänzende blau-weiße Kugel eines künstlichen Auges schlossen. Dann ließ sie ihre Faust mitten in Sluces grinsendes Gesicht sausen.



1
    Lilian ritt in Pyjamahosen und dhoti, einen Turban um den Kopf gewickelt, aus der Siedlung in Richtung der Eingeborenenstadt. An den Füßen trug sie Lederstiefel, die sie auf dem Basar gekauft hatte, und über dem Gewand ein Ziegenfellwams, das von einem Gürtel festgehalten wurde. Da sie nun schon seit Monaten mit ihren Farben und ihrer Staffelei durch die Wildnis geritten war,

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