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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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verwandelt. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie tun oder wohin sie sich wenden sollte …
    Ein Ruf riss sie aus ihrer Benommenheit, und sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um und sah einen europäischen Offizier, dessen Rock an der Schulter zerrissen war und aus dessen Ohren und Nase Blut strömte, auf sich zustürzen. Sein Mund stand offen, er hatte zornentbrannt die Zähne gefletscht und hob seine Machete, um sie von ihrem Pferd zu hauen. Es war keine Zeit mehr auszuweichen oder auch nur eine Warnung auszustoßen. Ihr blieb nur eines übrig, wenn sie sich nicht in Stücke hacken lassen wollte, und Lilian tat es ohne zu zögern. Sie zog die Pistole aus dem Gürtel und schoss dem Mann den Inhalt ins Gesicht.

2
    Mr Hunter stand auf Lilians Veranda, gemeinsam mit dem Arzt und dem Friedensrichter, und beobachtete, wie Flammen aus dem Basar aufstiegen. Die Sonne war hinter einem Fleck aus schwarzem Rauch verschwunden, und die Luft schmeckte bitter wie Wermut.
    »Wo kann sie sein?«, fragte Mr Vine.
    »Sie glauben doch nicht, dass sie in der Eingeborenenstadt ist, oder?«, sagte Dr. Mossly. Seine blassen Wangen wurden noch blasser.
    »Gut möglich«, sagte Mr Hunter. Er rief seinem sa’is zu, ihm sein Pferd zu bringen. »Ich reite hin und sehe nach, was da vor sich geht.«
    »Die Eingeborenenstadt brennt«, sagte Mr Vine gereizt. »Das geht da vor sich. Sie brauchen nicht auf den Basar zu reiten, wir können uns das Feuer von Mrs Birchwoodes Dach aus anschauen. Den Schaden sehen wir uns morgen früh genauer an.«
    »Seien Sie kein Narr, Mann!«, rief Mr Hunter. »Lily könnte längst tot sein.«
     
    Endlich befand sich Lilian in einer stillen Gasse. Der Orkan der Gewalt war bereits hindurchgefegt. Ein Rinnsal aus karmesinrotem Wasser bahnte sich träge einen Weg durch Berge von zertrümmerten Leichen, zerrissener Kleidung und Abfallhaufen. Lilian wischte ihre Messerklinge an ihrer Hose ab und lud die Pistole mit zitternden Händen. Rosafarbene, schwammige Gewebespritzer verschmierten Lauf und Kammer und machten den Griff klebrig. Sie betrachtete ihre rot verfärbten Finger. Im nächsten Augenblick übergab sie sich großzügig auf den Boden. Nach Luft ringend, sackte sie gegen den Hals ihres Ponys. Wäre sie doch nur vor einer Woche aufgebrochen! Wie dem auch sei, jetzt war es zu spät für derlei sinnlose Gedanken.
    Betäubt vor Angst und Entsetzen, ritt Lilian durch die Eingeborenenstadt. Das Vertrauen, das sie einst in ihre Verkleidung gehabt hatte, hatte sich längst in Luft aufgelöst. Jeden Augenblick könnte jemand bemerken, wer sie war, und sie fühlte sich verängstigt und verletzlich, so allein auf dem blutgetränkten Basar mit ihrer albernen Tracht und dem Pony der Company. Sie hatte geglaubt, Kushpur, Indien und die Inder zu kennen. Jetzt wirkte diese Annahme arrogant und naiv. Kushpur war zu einem dunklen und fremden Ort geworden, voller Schrecken und Groll. Es war ein Ort, den sie kaum wiedererkannte.
    Lilian ritt benommen und kam an Szenen solchen Gemetzels vorüber, dass sie kaum glauben konnte, dieselben Straßen zu durchstreifen, die sie schon hundertmal zuvor furchtlos entlanggelaufen war. Ihr Einfall, auf die Hauptverkehrsstraße zuzuhalten, wirkte töricht und unklug. Sie wusste, dass sie sie niemals allein erreichen könnte, und welche Gefahren mochten dort auf sie lauern, wenn sie sie erst einmal erreicht hätte? Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen (in der Tat liefen schon Tränen über ihre Wangen und hatten sich einen blassen Pfad durch das getrocknete Blut und die Rußflecken gebahnt). An wen konnte sie sich wenden? Wer würde ihr helfen, von diesem höllischen Ort zu entkommen? Die Antwort war offensichtlich: natürlich Mr Hunter. Allein der Gedanke an ihn erfüllte Lilian mit Erleichterung. Mr Hunter würde sie aus diesem beginnenden Massaker retten. Mr Hunter wüsste, was zu tun und wo ein sicherer Ort zu finden sei. Wahrscheinlich hatte er die europäische Enklave verlassen und war in die Eingeborenenstadt zurückgekehrt, um beim ersten Anzeichen von Ärger seine Habseligkeiten einzusammeln. Gewiss würde sie ihn beim dak- Bungalow antreffen. Lilian wendete ihr Pony und hielt auf die furchteinflößenden Hauptstraßen des Basars zu.
    Sie ritt an einem europäischen Offizier vorbei, der zwischen den Abfällen mitten auf der Straße lag. Sein Gesicht war dick mit Blut und Gehirnmasse verschmiert, sodass es die gleiche Farbe aufwies wie seine karmesinrote Uniform.

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