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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Etui öffnete, stieß sie auf eine Auswahl an chirurgischen Skalpellen. Ein anderes Etui enthielt ein schmutziges Taschentuch und ein Stück gefaltetes Wachstuch. Alice ließ das Taschentuch fallen und zog das Wachstuch hervor. Etwas Schweres war darin eingewickelt, und es entglitt ihr beinahe, als sie das Tuch in ihren Händen aufschlug. Auf einmal hielt sie einen kleinen Mahagonirahmen mit einem Durchmesser von etwa acht Zentimetern in der Hand. In dem Rahmen befand sich ein quadratisches Stück Glas, hinter dem sich, wie Alice annahm, ein Bild befand. Sie sah es sich genau an, konnte allerdings nichts erkennen. Sie hielt es sich näher vor die zusammengekniffenen Augen und rieb behutsam mit dem Zipfel ihres Ärmels über die Oberfläche. Dann hielt sie es ins Licht.
    Nun starrte ihr mit einem Mal Mrs Cattermole entgegen, deren gewaltige, bleiche Brüste auf dem Rand ihres herabgezogenen Korsetts ruhten wie zwei Mehlklöße auf einem Tablett. Die glänzenden Ringellöckchen und die neckisch-verschämte Miene waren unverwechselbar. Mrs Cattermole rekelte sich auf einem Berg Kissen, die Schenkel gespreizt wie zwei umgefallene Polster. Das Glas war abgegriffen, die Oberfläche von einer schmierig glänzenden Schicht getrübt und mit den fettigen Abdrücken von Sluces gierigen Fingern übersät.
    Alice erschauderte. Die stinkende Wärme des Ganges war von dem Geruch heißen Lampenglases und Ginatems erfüllt. Er schien durch ihre Kleider und Haare zu dringen und bedeckte ihre Haut wie Öl. Der Schwefelgestank von Sluces Schuhen und der Modergeruch seines Mantels drangen in ihre Nasenlöcher, sodass ihr jäh übel wurde und sich ihr Magen verkrampfte. Sie wickelte die Glasplatte in ihre Schutzhülle aus Wachstuch und schob sie sich in die eigene Tasche. Die Lampe in der Hand, machte sie sich auf den Weg aus den dunklen Eingeweiden des Gebäudes, um Mr Blake zu finden.
    Sie durchquerte die Eingangshalle schnell und leise in der Hoffnung, die Objekte der Sammlung, die sich an den Seiten häuften, böten Verstecke oder Nischen, in die sie gleiten könnte, sollte dies nötig werden.
    Auf einmal ertönte die donnernde Stimme ihres Vaters: »Alice?«
    Alice sprang hinter eine lebensgroße Statue der Queen, die aus dem gleichen Steingut angefertigt war, das bei der Herstellung von Straßenrinnen und Kloaken Verwendung fand (ein Geschenk an ihren Vater von Shanks and Company).
    In dem Augenblick bog ihr Vater vor ihr um die Ecke, Dr. Cattermole im Gefolge. »Nein, Cattermole, ich habe keine Ahnung, wo sie steckt. Ich habe Sluce auf die Suche nach ihr geschickt.«
    »Dürfte ich vorschlagen, dass sie, sobald man sie gefunden hat, direkt in das Zimmer gebracht wird, das ich für sie vorbereitet habe?«, erwiderte Dr. Cattermole. »Ich muss diesbezüglich erst noch mit Mr Blake reden, obgleich ich keinerlei Zweifel hege, dass er mir gern zur Hand gehen wird.«
    »Werde ich ihn bezahlen müssen?«, brummte Mr Talbot. Er stand so dicht vor Alices Versteck, dass sie die abgestorbenen Hautschuppen auf den Schultern seines Rockes sehen konnte. Sie zwängte sich hinter die Keramikröcke der Queen, bis sie das Gefühl hatte, sie werde gleich die Statue umkippen.
    »Die Grenze zwischen Wahnsinn und geistiger Gesundheit ist schmal«, sagte Dr. Cattermole gerade mit schriller Stimme. »Ich möchte darauf hinweisen, dass wir keine Zeit zu verlieren haben.«
    »Selbstverständlich, selbstverständlich. Und dennoch …« Mr Talbot rang die Hände. »Sind Sie sich auch ganz sicher, Cattermole?«
    »Oh, mein Wertester, es ist ganz natürlich, dass Sie sich Sorgen machen«, erwiderte Dr. Cattermole in wachsweichem Tonfall. »Doch es ist das Beste. Ihr sanftes Wesen, ihr süßes Antlitz und ihre Fügsamkeit werden wiederhergestellt – doch wohl gewiss ein höchst wünschenswertes Ergebnis?«
    »›Fügsamkeit und ein süßes Antlitz?‹«, wiederholte Mr Talbot unschlüssig. »Ich weiß nicht recht, ob Alice diese besonderen Attribute jemals besessen hat, auch wenn ich gestehen muss, dass ich sie immer als überaus anregende Gesellschaft beim Abendessen empfunden habe …«
    »Dies ist nicht der Zeitpunkt zu zaudern, Talbot«, zischte Dr. Cattermole.
    Alice sah, wie sich die Schultern ihres Vaters unter seinem Rock versteiften, bis sie beinahe die Nähte knarren hören konnte. »Wir müssen sie finden«, krächzte er schließlich. »Ich bin völlig verunsichert.«
     
    Alice lief auf den Ballsaal zu, diesmal schnell, falls ihr Vater und der

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