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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Blut verklebt, und er atmete schwer. Das Glasauge lag neben ihm und starrte zu Alice empor, als sei es erstaunt über den tätlichen Angriff, an dem es gezwungenermaßen beteiligt gewesen war. Die Tür zum Dienstbotengang war angelehnt, eine Laterne leuchtete matt in dem Korridor gegen die Dunkelheit an. Alice bückte sich und packte Sluce an den Knöcheln. Seine dreckigen Schuhe verströmten einen überwältigenden Höllengestank – eine Mischung aus feuchtem Leder, frisch umgegrabener Erde und Schwefel. Alice schleppte ihn über die Schwelle in das flackernde Dunkel.
    Die Tür ging mit einem Klicken hinter ihr zu. Alice zerrte ihn den Gang entlang, tief in die Bedienstetenhöhle hinter der Wand des Ballsaals. Für jemanden, der so klein und dünn war, stellte er eine erstaunlich unhandliche Last dar. Es war, als schleppte man einen Sack nasser Erde. Schließlich kam sie an eine Laterne, die Sluce auf dem Louis-Quinze-Tisch neben einem Stoß Seidenkissen und einer galvanisierten Statue von Diana hatte brennen lassen. Alice hielt die Laterne hoch und musterte ihn. Sein Atem ging schwer. Seine Augen waren nach hinten verdreht, sodass unter seinen schlaff herabhängenden Lidern lediglich ein schmaler weißer Schlitz zu sehen war. Als Mr Talbots unentbehrlicher Vertrauter hatte Sluce, wie sie wusste, die Schlüssel des Hauses anvertraut bekommen. Er besaß die Schlüssel zu den Hinter- und Vordertüren, zum Arbeitszimmer ihres Vaters, vielleicht sogar zu dessen Geldkassette … Sie durfte keine Zeit verlieren.
    Alice kramte in den Taschen von Sluces mnemonischem Mantel. Von der Stelle, an der sie neben der Wand am Boden kauerte, konnte sie das Dröhnen der Unterhaltungen aus dem Ballsaal hören. Eine Frage-und-Antwort-Runde hatte begonnen. Entsetzen packte Alice, als ihr klar wurde, worüber Dr. Cattermole sprach.
    »Nein, ich habe diese Art chirurgischen Eingriff noch nicht selbst durchgeführt, obgleich eine Patientin derzeit meiner Behandlung harrt. Ich vertraue voll und ganz darauf, dass das Verfahren das Objekt von einem eigensinnigen und verstockten Individuum von fragwürdiger Moral in eine sanftmütige und gehorsame Dame verwandeln wird.« Diese Erklärung erntete regen Beifall.
    »Aber ja!«, rief Dr. Cattermole als Antwort auf eine weitere Frage, die Alice nicht hörte. »Mit Vergnügen werde ich Ihnen bei einem zukünftigen Treffen der Gesellschaft von meinen Erkenntnissen berichten. Und wie der werte Herr anregt, werde ich die Physiognomie der Dame sowohl vor als auch nach dem Eingriff fotografieren.«
    Alice fummelte hektisch in dem kalten, öligen Stoff von Sluces Mantel herum. Ihre Finger glitten unter einen feuchten Stofflappen und in eine gewölbte Tasche. Am Grund einer langen, strumpfartigen Vertiefung schlossen sie sich um einen harten, kalten Gegenstand. Sie zog ihn heraus. Es war eine silberne Schmuckdose in der Gestalt einer Schildkröte. Alice glaubte sich zu erinnern, diesen Gegenstand in ihrer Kindheit auf der Frisierkommode ihrer Mutter gesehen zu haben, aber sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie stellte das Döschen auf den Boden.
    Sluce stöhnte und atmete geräuschvoll aus, seine Lider flatterten, als stehe er im Begriff, aus seiner Bewusstlosigkeit zu erwachen. Ein leichter Hauch von Gin entwich seinem halb geöffneten Mund. Alice schlug den mnemonischen Mantel auf. Ihre suchenden Finger förderten einen silbernen Zuckerstreuer von der Größe und Form eines Gegenstands zutage, der für den Gottesdienst geeignet war, einen Kerzenständer, eine Auswahl an Schnallen und Haarnadeln, eine Postkarte mit dem Hauptatrium der Weltausstellung von 1851, ein Uhrengewicht und ein Pendel, einen Stoffbeutel mit acht identischen Schraubenschlüsseln, den Tüllenaufsatz einer Gießkanne … In zwei Taschen befand sich nichts außer zerborstenen Keramikscherben (wenn es doch nur so einfach wäre, eigene unerwünschte Erinnerungen auf diese Art loszuwerden, dachte Alice erbittert).
    Schließlich lehnte sich Alice zurück. Sie starrte die Ergebnisse ihrer Bemühungen an. Was hatte sie gefunden? Nichts, schien es, als den halben Inhalt eines Trödelladens. Und wie warm es unter dem heißen Schein der Lampe wurde. Ihre Hände fühlten sich klebrig von Sluces schrecklichen Taschen an, ihr Kopf schmerzte beim Betrachten der angehäuften Gedächtnisstützen. Sie griff nach der Postkarte des Crystal Palace und nahm sie her, um das Meer an Gegenständen zu durchsieben. Als sie ein kleines lackiertes

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