Handbuch für anständige Mädchen
zu einem kleinen indischen Gentleman mit seidig schwarzem Backen- und Schnurrbart gebracht. Mr Hunter war sich sicher, dass es sich um denselben Burschen handelte, den er früher am Tag bei der Gartenarbeit beobachtet hatte. Jetzt saß der Mann allerdings auf einem goldenen Kissen und blätterte in einer Ausgabe von Glennys Handbuch für den Obst- und Gemüsegärtner. Hinter ihm hing eine Reihe botanischer Gemälde. Mr Hunter erkannte sie als das Werk von Lilian – nicht zuletzt, da sie jedes einzelne Bild signiert hatte. Vier von ihnen schienen Kürbisse unterschiedlicher Größe und Farbe darzustellen.
»Ich heiße Ravindra Yashodhar Bhagirath Rana, der Maharadscha von Bhandarahpur«, sagte der Mann, der sein Buch zur Seite warf und aufsprang. »Und Sie sind herzlich in meinem Palast willkommen.« Er ergriff Mr Hunters Hand und schüttelte sie eifrig. »Wie ich sehe, haben Sie sich erholt.«
Mr Hunter verbeugte sich leicht. Er hatte noch nie von Bhandarahpur gehört. »Ja«, sagte er wachsam. »Wofür ich mich bei Ihnen bedanken möchte. Sollte es eine Möglichkeit geben, wie ich mich für Ihre Güte erkenntlich zeigen kann …«
»Dazu kommen wir gleich noch«, sagte Ravi. »Aber zuerst sehe ich, dass Sie meine Gemälde bewundern. Sie sind selbstverständlich von Ihrer weiblichen Gefährtin, Lilian Talbot, angefertigt worden.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Mr Hunter. »Verzeihen Sie, aber ist das ein Kürbis?«
Ravi lächelte. »Es sind in der Tat vier Kürbisse. Ach, welch ausgezeichnete Dame sie doch ist! Während Ihrer Krankheit hat sie mein besonders geschätztes Gemüse gemalt, wie Sie sehen können. Außerdem hat sie viele Pflanzen gemalt, die ich in meinem Garten halte. Wir haben ›das Eisen geschmiedet, solange es heiß ist‹, wie Sie Engländer es gern formulieren.« Er lachte. »Ach, wir haben uns so gut unterhalten. Ihre liebe Schwester, ihre geliebten Tanten … Lilian – sie gestattet mir die vertraute Anrede – hat sie mir allesamt beschrieben, sodass ich das Gefühl habe, sie seien im Grunde meine Freunde. Ihre eigene traurige Abreise aus England, der vorzeitige Tod ihres Gatten, all diese Geschichten hat sie mir erläutert.« Er lächelte gütig. »Sie selbst haben auch Erwähnung gefunden.«
»Tatsächlich?« Es gelang Mr Hunter nicht, den Eifer in seiner Stimme zu unterdrücken. Hatte Lilian diesem ungewöhnlichen Vertrauten ihr Herz geöffnet? »Was hat sie gesagt?«
»Dass Sie sie entehrt und in England sitzen gelassen haben.«
Mr Hunter errötete. »Das ist schon lange her. Ich war ein Narr. Das habe ich ihr gegenüber zugegeben. Sie hat mir verziehen.«
»Ach ja, und ›lässt die Vergangenheit ruhen‹. So sagt man doch, nicht wahr? Und dessen sind Sie sich ganz sicher?«
»Weshalb sollte ich mir nicht sicher sein?«
»Ich frage ja nur.«
Mr Hunters Stimme nahm einen unsicheren Unterton an. »Sie hat es gesagt.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
»Aber mein lieber Mr Hunter! Ist Ihnen denn jenes lehrreichste aller englischen Sprichwörter nicht bekannt: ›Hüte dich vor versöhnten Feinden und vor Fleisch, das zweimal gekocht wurde‹?«
»Ich muss gestehen, dass ich es noch nie zuvor gehört habe.«
»Schade. Denn ich kann Ihnen versichern, Miss Talbot sagt, sie habe Ihnen nicht verziehen, dass Sie sie sitzen gelassen haben. Ja, sehr, sehr schlimme Dinge sind ihr anschließend aufgrund Ihres höchst unfeinen Verhaltens und Ihrer feigen Abreise widerfahren.«
Mr Hunter blinzelte. »Wie bitte?«
»›Willst du die Frucht genießen, so pflücke nicht die Blüte‹, Mr Hunter. Als Mann des Gartenbaus werden Sie doch gewiss den Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu schätzen wissen?«
»Und was genau soll das heißen?«, fragte Mr Hunter aufgebracht. »Sehen Sie mal, mein Bester. Wo ist sie? Ich verlange, mit ihr zu sprechen.«
»›Mein Bester‹«, murmelte Ravi. »Ach, Oxford!« Er sah Mr Hunter heiter an und schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass Sie es sich erlauben können, Forderungen zu stellen. Da Sie sie nicht selbst gefragt haben, soll ich Ihnen ausrichten, dass Miss Talbot – Lilian – ein Kind von Ihnen erwartete.«
»Woher wissen Sie …«
»Dass ein Arzt, ein Freund ihres Vaters, es auf sich nahm, das ungeborene Kind zu entfernen. Es zu … vernichten, sodass keine Schande über sie käme. Sodass sie ihrem Vater keine Schande machte.« Ravi erschauderte und senkte den Blick. »Und anschließend wurde sie mit einem törichten Mann verheiratet, man
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