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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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verweigerte ihr ihre Mitgift und schickte sie von ihrer geliebten Schwester fort. Den Rest kennen Sie ja.«
    »Warum hat sie mir das nicht selbst erzählt, wenn es die Wahrheit ist?«, rief Mr Hunter. Doch noch während er sprach, dämmerte ihm, dass der Mann vor ihm sehr wohl die Wahrheit sagen mochte. Hatte Lilian nicht etwas Ähnliches von sich gegeben, als sie im Wald ihr Lager aufgeschlagen hatten? In seinem Delirium war er davon ausgegangen, dass sie das unbeschreibliche Gemetzel und die Gewalttaten meinte, die sie auf den Straßen von Kushpur mitangesehen hatte. Doch diese unbeschreiblichen Taten waren nicht an jemand anderem begangen worden, sondern waren Lilian selbst widerfahren und ihrem Kind – seinem Kind – in ihrem eigenen Leib. »Warum hat sie es mir nicht gesagt?« Mr Hunters Stimme war nur noch ein Flüstern.
    »Sie haben sie nicht gefragt«, sagte Ravi. »Und ›obgleich die Wunde heilte, blieb eine Narbe‹. Diese englische Redensart passt ausgezeichnet. Mr Hunter, Sie täten gut daran, sie nicht zu vergessen.«
    »Ich muss mit ihr reden«, sagte Mr Hunter. »Wo ist sie?«
    »Oh, sie ist fort«, sagte Ravi. Er griff nach seiner Ausgabe von Glennys Handbuch für den Obst- und Gemüsegärtner und blätterte erneut darin herum.
    »Fort?« Mr Hunter wollte seinen Ohren nicht trauen.
    »Ja. Aber Sie sollen hierbleiben. Ich habe viel Arbeit für Sie. ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹, oder etwa nicht? Und das soll auf keinen Fall geschehen.« Ravi runzelte die Stirn, als sei ihm soeben etwas eingefallen. »O ja. Und bitte versuchen Sie nicht, ihr zu folgen. Lilians Leben wird ohne Sie viel besser sein. Ich verfüge über viele Wachen, und seien Sie versichert, dass sie ausdrückliche Anweisungen erhalten haben. Abgesehen davon befinden wir uns viele, viele Meilen von jeglichen Menschen entfernt, die Sie vielleicht als Freunde bezeichnen würden, und diese Gegend ist schrecklich, schrecklich gefährlich: Thugs, Krokodile, Tiger … und natürlich Rebellion.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber bitte, genug von diesen unangenehmen Gesprächsthemen. Wir haben zu arbeiten. Wie Sie Engländer so schön sagen: ›Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.‹ Auch diese Redensart ist höchst zutreffend.« Lächelnd klatschte er in die Hände. Hinter einem Wandbehang trat ein Träger mit einer silbernen Servierplatte hervor. Darauf befand sich ein Beutelchen aus goldfarbenem Stoff. Ravi griff nach dem Beutel und schüttelte ihn aufgeregt in der rechten Hand.
    »Der Rosenkohlsamen«, sagte er. »Sie werden ihn für mich anpflanzen. Ich habe außerdem Kohl, Lauch, Weiße Rüben … ›Was der Mensch sät, das wird er ernten.‹ Oder etwa nicht?« Er betrachtete Mr Hunter mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Konzentration. »Nun denn. Vielleicht sind wir ein bisschen spät dran, um diese besonderen Samen auszusäen. Was würden Sie raten? Sollten wir auf der Stelle anpflanzen? Sollten wir kühleres Wetter abwarten?« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sollten wir sie aber auch einfach bis zum nächsten Jahr liegen lassen? Schließlich haben wir ja reichlich Zeit.«

 

1
    Das Geräusch des fallenden Sluce wurde von dem Beifall übertönt, der am Ende von Dr. Cattermoles Vortrag ausbrach. Alice stieg über den am Boden liegenden Diener ihres Vaters hinweg und spähte über die Dreschmaschine. Die Gäste sahen zum Rednerpult, hinter dem Dr. Cattermole nickte und Hände schüttelte und überhaupt recht selbstzufrieden dreinblickte. Seine Laterna magica war nicht ausgeschaltet, und von der Wand hinter ihm starrte das Gesicht einer Frau voll entgeistertem Unglauben auf die Menge eifrig klatschender Männer. Ihr Kopf war von einem Blumengewinde umgeben – zwecks Bühnenwirkung von Cattermole selbst dort platziert, dachte Alice erbost. Wie überzeugend wäre sein Vortrag wohl ausgefallen, wenn er nicht auf die üblichen Motive des Wahnsinns zurückgegriffen hätte? Und dennoch, durchschauten die sogenannten Männer der Wissenschaft, die sein Publikum ausmachten, nicht solche visuellen Tricks? Beleidigte er sie nicht mit seinem Mangel an wissenschaftlicher Rigorosität? Hatten sie denn keine Töchter, Gattinnen, Schwestern, die ihnen jeden Tag das Gegenteil bewiesen? Alice war versucht, noch ein Glasauge zu nehmen und es Dr. Cattermole an den Kopf zu schleudern.
    Sluce stieß ein Ächzen aus. Er lag auf dem Boden ausgestreckt, seine Nasenlöcher waren mit gerinnendem

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