Handbuch für anständige Mädchen
sucht nach Ihnen.«
Mr Blake streckte die Hände aus und packte Alice an den Armen. »Nun denn«, sagte er mit einem Lächeln, »da wir einander endlich gefunden haben, können wir das Ganze vielleicht hinter uns bringen.« Er sah über ihre Schulter. »Dr. Cattermole? Sind Sie so weit?«
Alice keuchte. Sie wirbelte herum und erblickte Dr. Cattermole, der mit triumphierender Miene aus dem Laubwerk hervortrat, wie ein Wiesel aus dem Unterholz. Ihr Vater ragte hinter ihm auf, das Gesicht karmesinrot, der Bart voller Schweißperlen. Alice stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Sie sah nach links und rechts, doch es gab kein Entrinnen, eingeengt wie sie war von Tischen, Sesseln, Schemeln und Sofas. Überall schienen alte Damen zu sein, mit offenen Mündern und zitternden Händen, ihre Utensilien aus Stöcken und Schultertüchern, Strickkörben, Kartentischen und Teetabletts um sie herum versammelt wie Schlingen und Fallen für den Unvorsichtigen. Alice taumelte gegen Tante Lamberts Sessel und stürzte beinahe darauf (und auf seine Besitzerin, die im Begriff war, sich mühsam zu erheben). Das Treibhaus schien sich um Alice zu drehen, seine Wärme war nun eine erstickende Decke, die pulsierenden Rohre ein endloses Hämmern in ihrem Hirn. Sie hörte die erhobenen Stimmen ihrer Tanten, das Klappern ihrer Teetassen auf den Untertellern, während sie in nutzloser Empörung umherwankten. Sie wurde fest an den Armen gepackt, und die brodelnde Atmosphäre nahm den Gestank von Äther an.
2
Tante Lambert ging durch die stillen Flure des Großen Hauses. Hinter ihr, in einer würdevollen Prozession, hielt Tante Statham den Arm von Mrs Talbot der Älteren, Tante Pendleton schob Tante Rushton-Bell in deren Rollstuhl. Ihr Weg wurde lediglich von den Lampen erhellt, die sie bei sich trugen. Tante Lambert hielt eine flackernde Kerze empor. Tante Statham und Mrs Talbot die Ältere, beide im Allgemeinen zu schwach, etwas in Händen zu halten außer ihrem Stock und dem Arm der jeweils anderen, blinzelten Tante Lambert über die Schulter zu und spähten kurzsichtig in die ungewisse Dunkelheit. Tante Rushton-Bell trug eine Lampe, deren rauchender Docht ihre Augenhöhlen in leere, schwarze Löcher verwandelte, sodass sie einem mumifizierten Leichnam ähnelte, der in einem offenen Sarg geschoben wurde. Jede von ihnen trug Schwarz, wie es sich für ihren Witwenstand gehörte, und ihre Gesichter leuchteten wie Knochen im zitternden Kerzenschein. Diese makabre Prozession bewegte sich so langsam wie ein Leichenzug zwischen den tanzenden Schatten der Sammlung hindurch.
»Bist du dir sicher, dass sie es ist?«, flüsterte Tante Pendleton laut. »Auf dem Bild?«
»Ganz gewiss«, sagte Tante Statham. »Ich vergesse niemals ein Gesicht.«
»Ist das auch klug?«, sagte Mrs Talbot die Ältere. »Vielleicht sollten wir es bei einer feinen Tasse Tee besprechen. Ich fände es so grässlich, das Falsche zu tun. Und wir müssen doch an Alice denken.«
»Was gibt es da noch zu besprechen?«, fragte Tante Lambert über die Schulter. »Wir können nur das Falsche tun, wenn wir nichts tun. Alice hat die gläserne Fotografie zu einem bestimmten Zweck in meinen Schoß fallen lassen. Wir können in ihrer Stunde der Not nicht einfach herumsitzen und Tee trinken. Wir müssen handeln, und zwar jetzt.«
»Aber wir wissen nicht, wo sie sich befindet«, beharrte Tante Rushton-Bell. »Es gibt Hunderte Räume in diesem Haus. Sie könnte in jedem sein. Außerdem ist die Tür ganz bestimmt abgesperrt, und ich jedenfalls bin nicht kräftig genug, sie aufzubrechen, so sehr ich es mir vielleicht auch wünschte.«
Tante Lambert nickte. »Und da wir nicht jedes einzelne Zimmer durchsuchen können, werden wir uns zu helfen wissen.«
Die Tanten nickten einander zu und murmelten zustimmend. Hoch erhobenen Hauptes bogen sie voll trotziger Entschlossenheit um die Ecke. Vor ihnen stand die Doppeltür zum Ballsaal offen, und das Licht von Dr. Cattermoles Laterna magica strömte in einem blutroten Farbfleck in die Eingangshalle.
»Da wären wir, meine Damen«, sagte Tante Lambert. »Und jetzt erinnert euch an meine Worte. Wir müssen zusammenhalten gegen Talbot und seine grässlichen Freunde. Sie werden natürlich Einwände vorbringen. Schließlich sind wir bloß Frauen, und Frauen ist der Zutritt zum Bollwerk verwehrt. Doch wir müssen sie dazu bringen, uns anzuhören. Wir müssen standhaft bleiben. Gemeinsam können wir uns behaupten.«
»Vive la révolution!«, rief
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