Handbuch für anständige Mädchen
unter dem klebrigen Karmesinrot, das sie bedeckte.
Alice versuchte, sich von dem Bett zu erheben. Sie musste einen Weg aus dem Zimmer finden. Doch sie stellte fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Als sie an sich herabblickte, gewahrte sie, dass breite Lederriemen über ihren Beinen, ihrem Unterleib, ihren Armen und ihrer Brust sie ans Bett fesselten, so sicher, wie die Dosis Äther es zuvor getan hatte. Alice warf sich, soweit es möglich war, unter ihren Lederfesseln hin und her. Wenn sie nur eine Hand frei bekäme, könnte sie die Riemen vielleicht lösen.
Doch in dem Augenblick ging die Tür auf. Mr Blake und Dr. Cattermole traten ein. Ersterer trug einen Kamerakasten, Letzterer ein Teetablett, auf dem eine gewaltige Teekanne, eine Tasse mit Untertasse und ein Teller mit Bakewell Tart standen. Dr. Cattermole stellte sein Tablett auf dem Schaukasten mit Finken ab und goss sich eine Tasse Tee ein. Mr Blake öffnete seinen Kamerakasten und zog seinen Fotoapparat hervor. Alice bemerkte, dass das Dunkelzelt, in dem sie und Mr Blake in den vergangenen Monaten so viel Zeit verbracht hatten, in einer Ecke hinter dem Vogelpublikum errichtet worden war. Alice betrachtete den Fotografen, während er seinen Fotoapparat auf einem gewaltigen Stativ befestigte, das am Fuß des Operationstisches stand. Mr Blake warf ihr einen Blick zu, konnte ihr allerdings nicht in die Augen sehen. Sobald der Fotoapparat an seinem Platz war, widmete sich Mr Blake der Wahl der richtigen Linse und dem Polieren der Glasplatten, die er verwenden würde, wobei er darauf achtete, ihr den Rücken zuzukehren. Alice starrte ihn an, sagte aber nichts. Wie dumm sie gewesen war! Im Laufe der vergangenen Monate war sie sich sicher gewesen, sie hätten eine Art Einvernehmen, eine Art von Beziehung entwickelt, basierend auf echter Hochachtung, gegenseitigem Respekt, gar Zuneigung. Sie fragte sich, wie viel Geld ihr Vater dem Fotografen geboten hatte, damit er bei dem, was bald geschähe, als Gehilfe fungierte.
»Miss Talbot«, sagte der Arzt und leckte sich Krümel von den Lippen, »wie ich sehe, sind Sie wieder wach. Ich muss mich für die Fesseln entschuldigen, die ich mich zu benutzen gezwungen gesehen habe, aber Sie sind ganz offensichtlich eine einfallsreiche Frau, und wir hätten Sie auf keinen Fall unbeaufsichtigt zurücklassen können. Doch jetzt sind wir ja hier.« Er nippte an seinem Tee, machte allerdings keine Anstalten, Alice zu befreien. »Als wir das letzte Mal hier waren, ist es natürlich Ihre Schwester gewesen, die einer medizinischen Behandlung bedurfte.« Er schüttelte den Kopf. »Welch Kummer Ihrem lieben Vater das Schicksal seiner Töchter bereitet. Ein gefallenes Mädchen, gerettet nur durch das rechtzeitige Einschreiten eines höchst nachsichtigen Geistlichen. Die andere, geschlechtslos gemacht durch ihren Wissensdurst und folglich ständig am Rande des Wahnsinns.«
»Lassen Sie mich frei!«, rief Alice. »Sie begehen ein schweres und strafbares Verbrechen, mich hier auf diese Weise gefangen zu halten. Hierbei handelt es sich um einen tätlichen Angriff, ich werde gegen meinen Willen festgehalten.«
»Aber Ihre Einwilligung ist nicht vonnöten, meine Liebe. Ihr Zustand hat Sie eindeutig Ihres Verstandes beraubt. Ihr Vater wird das bezeugen. Jeder einzelne meiner Kollegen unten würde zustimmen.«
»Welch ein Unsinn!«, schrie Alice, die sich Mühe gab, ihrer Angst Herr zu werden. »Wenn diese sogenannten Kollegen so sehr mit Ihnen übereinstimmen, warum verstecken Sie mich dann hier oben? Warum sind die Herren nicht bei Ihnen?« Alice kämpfte gegen ihre Fesseln an, ihr Gesicht rötete sich, und ihre Haare lagen zerzaust auf dem Kopfkissen. Panische Angst wand sich wie eine kalte Schlange in ihrem Magen. Sie zwang sich, vernünftig zu klingen. »Kommen Sie schon, Doktor. Lassen Sie mich auf der Stelle frei, und wir vergessen das Ganze.«
Dr. Cattermole leckte sich die Finger. »Ihnen ist doch wohl klar«, sagte er, »dass Ihr Schicksal in langfristiger Verwahrung bestünde, wäre ich nicht in der Lage, Sie durch eine einfache Operation wieder fügsam zu machen. Ein Leben lang zur Untätigkeit gezwungen, entweder in einer Irrenanstalt oder in abgetrennten Räumlichkeiten zu Hause. Offensichtlich ist Ihr Vater darauf bedacht, dies zu vermeiden, teils, weil er Sie als Haushälterin benötigt, teils aufgrund des Schandflecks, den eine Tochter bedeuten würde, die den Verstand verloren hat.«
»Ich habe nicht den Verstand
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