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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Kopf flüsterte ihm ein, dass dies eigentlich kein Argument war, das zugunsten des Arztes sprach.
    Doch jetzt sprach gerade seine Tante. »Ja«, sagte sie, »natürlich ist sie es. Wirklich, Edwin, du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass du keine Ahnung hattest?«
    Wortlos schüttelte Mr Talbot den Kopf. »Und hat Cattermole die Aufnahme gemacht, was meinst du?«, krächzte er.
    »Zweifellos«, behauptete Tante Lambert.
    »Allerdings«, sagte Mr Talbot, »hat sie vielleicht auch Mr Blake gemacht.« Er sprang auf. Auf einmal, als sähe er es zum ersten Mal, fiel sein Blick auf das rote flackernde Licht an den Fenstern. Orangefarbene und gelbe Materie kam zischend in einer dampfenden Fontäne in Sicht. Eine gelbstichige Rauchwolke quoll in die Nacht, und die Luft in dem Ballsaal füllte sich mit dem unverkennbaren Gestank nach Schwefel. Die Mitglieder der Gesellschaft strömten aus dem Ballsaal.
    Mr Talbot stieß einen Ruf des Entzückens aus. Er stieß Tante Lambert beiseite und sprang ans Rednerpult. Sämtliche Gedanken an Dr. Cattermole oder Mrs Cattermole, an Mr Blake, an Alice oder jegliche Art von Fotografie waren wie weggewischt. »Es hat angefangen!«, rief er. Sein Gesicht wurde wie eine Karnevalsmaske von dem teuflischen Licht des künstlichen Vulkans erleuchtet. »Ich habe mich schon gefragt, ob es funktionieren würde.« Mr Talbot trommelte auf das Rednerpult. »Meine Herren, bitte!«, schrie er über das Getöse hinweg. »Wenn Sie das Gebäude verlassen und auf die Terrasse vor dem Haus treten würden, kann ich Ihnen versichern, dass man von dort aus die beste Aussicht auf das Spektakel hat. Meine Herren?« Doch niemand hörte ihm zu. Mr Talbot sprach zu den entschwindenden Rücken einer schrumpfenden Menge.
    »Was ist mit Dr. Cattermole?«, rief Tante Lambert. »Und mit Alice? Wo sind sie?«
    Ihre Worte gingen im Lärm einer Explosion unter. Die Fenster klirrten, als ein Erdregen auf sie niederprasselte. Dann war auch Mr Talbot verschwunden.

3
    Alice vernahm Geräusche um sich herum, auch wenn sie gedämpft waren, als höre sie sie durch eine Wand oder von unter Wasser. Sie versuchte sich zu bewegen, sich aufzurichten, doch ihr Kopf war schwer und ihre Glieder bleiern. Ihre Sinne wurden allmählich schärfer, und ihr Verstand machte sich langsam einen Reim auf die Geräusche, die sie vernahm, als tauche sie aus einem ruhigen, dunklen Teich auf. Als Erstes hatte sie die Stimmen wahrgenommen: Männer im Gespräch. Doch dann ging irgendwo eine Tür auf und schloss sich wieder. Vorhänge wurden zugezogen, ein Schürhaken klapperte auf einem Rost, und Kohle wurde aus einem Kohleneimer geschüttet. Sie vernahm Ächzen und das Geräusch von etwas Großem, das über den Boden schabte. Alice zwang sich, die Augen zu öffnen, auch wenn ein Teil von ihr sie lieber geschlossen gehalten hätte, um wieder das Bewusstsein verlieren zu können. Das Zimmer war dunkel. Die einzige Lichtquelle – eine Laterne auf einer Frisierkommode – wurde von zwei Männergestalten verdeckt, die mit einem gewaltigen Meeresvogel zu ringen schienen. Alice schloss die Augen (vielleicht träumte sie) und schlug sie wieder auf.
    »Wenn Sie es hinten anheben würden«, zischte eine Stimme, »und den Schnabel des Dings aus meinen Augen entfernen könnten. Danke.«
    Stöhnend versuchte Alice, sich aufzusetzen.
    »Miss Talbot.« Eine der Gestalten ließ den Meeresvogel fallen und eilte zu ihr. »Bitte, Sie dürfen noch nicht aufstehen.«
    Alice erkannte die Stimme des Fotografen. »Wie können Sie es wagen, mich anzufassen«, murmelte sie, und es fiel ihr schwer, dem Zorn Ausdruck zu verleihen, den sie, wie sie wusste, eigentlich empfinden sollte. »Hände weg. Ich werde aufstehen, wenn ich es wünsche.« Doch ihre Worte kamen schwerfällig und undeutlich hervor, und sie war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt verstanden hatte. Tränen der Wut und Frustration traten ihr in die Augen. Sie versuchte, den Arm zu heben, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, doch dazu schien ihr die Kraft zu fehlen oder die innere Überzeugung. Mr Blake tätschelte die Hand, mit der sie ihm ins Gesicht hatte schlagen wollen. »Ruhen Sie sich aus, Miss Talbot«, sagte er. »Der Äther wird Ihren Körper bald verlassen.«
    »Es wäre ratsam, wenn Sie Mr Blakes Anregung befolgten«, sagte Dr. Cattermole. Er vergrub zwei dünne, weiße Finger in einer Tasche seiner Weste und zog einen Schlüssel hervor. »Auch wenn ich zutiefst überrascht wäre, sollte es

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