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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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seiner Funktion als Arzt dem Nutzen der Menschheit zu dienen – meine Herren, dieser Mann ist nicht, was er zu sein scheint. «
    Jemand in der ersten Reihe beugte sich wie ein ausgehungerter Hund vor, die Augen weit aufgerissen, den Mund offen, begierig auf mehr.
    »Wie blind Sie gewesen sind«, rief Tante Lambert. »Wie leichtgläubig und hintergangen. Doch seien Sie versichert, meine Herren, diese Zeiten sind jetzt vorbei. Wir, meine Schwestern und ich, wir sind hier, um diesen Betrüger zu entlarven. « Sie ließ ihren Stock auf den Boden krachen.
    »Ist es jetzt so weit?«, wollte Tante Statham wissen.
    »Noch nicht«, zischte Tante Lambert.
    »Noch nicht!«, schrie Tante Pendleton gellend und fasste sich mit knochigen Fingern an die Kehle, die weit aufgerissenen Augen unverwandt auf Tante Lambert gerichtet. »Noch nicht!«
    Tante Lambert hängte sich den Stock an den Arm und klammerte sich an das Rednerpult. »Wir sind hier, um Ihnen sein schändlichstes Geheimnis zu offenbaren«, rief sie. »Ein Geheimnis, das er vor Ihnen verheimlicht hat. Ein Geheimnis, das deutlicher als alles sonst beweist, dass Ihre überaus ehrenwerte Gesellschaft in ihrer Mitte einem Mann mit dem verderbtesten, dem lasterhaftesten und verworfendsten Charakter Zuflucht gewährt hat. Einem Mann, dessen Moralvorstellungen und die jener höchst zügellosen Dame, seiner sogenannten Gattin, nicht besser sind als die eines Hedonisten, eines Kupplers, eines Pornografen .«
    Tante Lambert ließ ihren Stock immer wieder krachend zu Boden fahren, als zermalme sie eine Invasion von Käfern.
    »Jetzt?«, schrie Tante Statham.
    »Jetzt!«, riefen Tante Pendleton und Tante Lambert gleichzeitig.
    Tante Statham schob das Glasprojektionsbild in die Laterna magica. Wie ein nackter Geist, der seiner Flasche entstieg, erschien an der Wand hinter dem sprachlosen Mr Talbot das Sepiabild von Mrs Cattermole. Mr Talbot taumelte rückwärts und fiel in einen Sessel. Er glotzte das vergrößerte Bild an, sein Mund öffnete und schloss sich wie bei einer gestrandeten Forelle, seine Augen waren auf das dunkle Dickicht gerichtet, das wie Stechginster über der gewölbten Hügellandschaft von Mrs Cattermoles Schenkeln spross. Tante Statham, die sich neben der Laterna magica postiert hatte, fiel auf, dass manche Mitglieder des Publikums nicht so sehr schockiert, sondern eher peinlich berührt wirkten, als hätten sie dies, oder etwas sehr Ähnliches, bereits zu Gesicht bekommen.
    Und auf einmal brach lautstarker Protest los. Mitglieder des Publikums erhoben sich. Die Laterna magica schwankte wie eine Rettungsboje auf ihrem Ständer hin und her, als sich die Gesellschaft zur Verbreitung Nützlichen und Interessanten Wissens um sie drängte. Jemand löschte ihre Lichtquelle (alles, um sich von jenem gespreizten und kugelförmigen Bildnis zu befreien). In dem Saal wurde es dunkel. Jedenfalls wäre es in dem Saal dunkel geworden, wenn er nicht von einem unerwarteten roten Leuchten erhellt worden wäre, das durch die Fenster tanzte und flackerte, als habe jemand irgendwo in der Tiefe die Tür eines gewaltigen Ofens geöffnet.
    Tante Lambert, die noch immer hinter dem Rednerpult auf dem Podium an der Stirnseite des Ballsaales stand, betrachtete überrascht die Szene. »Edwin!«, rief sie über den Lärm der Schreie und das Kreischen und Klappern von Stühlen hinweg, die hierhin und dorthin über den Boden geschoben wurden. »Edwin!«
    Mr Talbot saß immer noch zusammengesackt in seinem Sessel, den Blick starr auf die Stelle an der Wand gerichtet, an der das Bild von Mrs Cattermole zu sehen gewesen war.
    »Komm schon, Mann!«, rief Tante Lambert. »Reiß dich zusammen.« Sie stieß ihn mit dem Stock an. »Edwin!«
    Mr Talbot blinzelte und richtete seine rot geränderten Augen auf seine Tante. »Ist sie das wirklich gewesen?«, fragte er. Doch er wusste es. Ja, bei seinem letzten Besuch in London, als er am Tisch des Arztes saß, hatte er den üppigen Ausschnitt von Mrs Cattermole mit unverhohlener Gier betrachtet, als sie sich nahe zu ihm beugte, um ihm zuzuhören. Welch zauberhafte junge Frau sie doch war, hatte er gedacht. Immer so lebhaft. Und auch so attraktiv. Er hatte nicht geahnt, dass sie so schamlos war, so unverfroren. Vielleicht war Cattermole ebenfalls auf sie hereingefallen. Vielleicht hatte sich Cattermole keiner Missetat schuldig gemacht. Schließlich arbeitete der Mann mit gefallenen Mädchen, oder etwa nicht? Im Magdalene Asylum? Eine Stimme in Mr Talbots

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