Handbuch für anständige Mädchen
Ihnen gelingen, in Ihrem derzeitigen Zustand die Tür zu erreichen, kämen Sie ohne die Hilfe dieses kleinen Kerlchens nicht viel weiter.« Er verstaute den Schlüssel wieder außer Sicht unterhalb seiner Rippen. »Ich schlage vor, dass Sie sich zurücklegen und ausruhen. Mr Blake, wenn Sie die Freundlichkeit besäßen, mir wieder mit diesem Albatros behilflich zu sein? Schließlich wollen wir doch nicht in einem beengten Raum operieren, nicht wahr? Es wäre mir höchst zuwider, mit dem Ellbogen gegen etwas zu stoßen und einen größeren Schnitt als nötig vorzunehmen.« Er lächelte. In dem trüben Licht hatte es fast den Anschein, als würden seine braunen Zähne fehlen. »Und ich brauche auch Platz für die Kamera, vergessen Sie das nicht. Sie muss direkt vor der Patientin stehen, die Linse auf den zu entfernenden Bereich gerichtet.«
»Ich dachte, Sie seien am Gesicht interessiert, der Physiognomie?«, erkundigte sich Mr Blake skeptisch.
»Oh, das auch.« Dr. Cattermole winkte ab. »Doch die Operation selbst muss festgehalten werden. Wir müssen den Quell all dieses Ärgers sehen, und wir müssen seine Entfernung grafisch abbilden.«
Mr Blake warf Alice einen Blick zu. Doch Alice hörte kaum hin. Eine Formulierung schwirrte ihr wieder und wieder im Kopf herum: den zu entfernenden Bereich. Eine Woge der Übelkeit packte sie, ließ ihre Haut schweißfeucht werden und füllte ihren Mund mit einer bitteren, metallisch schmeckenden Flüssigkeit. Mühsam versuchte sie aufzustehen, was jedoch lediglich zur Folge hatte, dass sie wie eine Stoffpuppe von dem Bett zu Boden glitt. Hände kamen auf sie zu, und sie schrie auf.
Mr Blake hob sie wieder auf das Bett. »Ruhen Sie sich jetzt aus«, murmelte er ihr ins Ohr, »oder der Doktor wird Sie fesseln müssen.«
»Ja, in der Tat«, sagte Dr. Cattermole. »Mir stehen sämtliche notwendigen Mittel zur Verfügung. Und natürlich die volle und ganze Unterstützung Ihres Vaters.«
»Tun Sie, was er sagt«, flüsterte Mr Blake. »Es ist am besten so.« Er strich ihr beruhigend über die Haare. Alice schloss die Augen und wandte sich von ihm ab.
Als Alice wieder zu Bewusstsein kam, herrschte Stille. Dr. Cattermole und Mr Blake waren verschwunden. Die Lampen brannten und erhellten das Zimmer mit einem kränklich gelben Schein. Dank der Einrichtungsgegenstände, die Alice zuvor kaum wahrgenommen hatte, wusste sie sofort, wo sie sich befand – in einem Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses im dritten Stock, in der Nähe der Treppe zum Dachboden. Es beherbergte nun schon seit etlichen Jahren Mr Talbots Sammlung ausgestopfter Vögel – seitdem deren vorheriger Schlafplatz, das Billardzimmer, von der Sammlung wissenschaftlicher Instrumente in Besitz genommen worden war. Alice bemerkte, dass Mr Blake und Dr. Cattermole die Vögel an die Wände gestellt hatten. Jetzt befand sich eine Lichtung in der Zimmermitte, um die die Vögel versammelt waren, als sei der Raum ein Theater mit einem Publikum aus beschnabelten und perläugigen Zuschauern. Ihre Blicke waren, wie Alice beunruhigt feststellte, auf einen Operationstisch gerichtet. Sie erbleichte. Sie hatte Dr. Cattermoles Operationstisch nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit Lilian darauf gelegen hatte. Die Steigbügel zu beiden Seiten waren immer noch die gleichen, der rissige und glänzende Lederbezug noch genauso fleckig und abgewetzt. Daneben, auf einem Waschtisch, stand ein gewaltiges Becken, eine Kanne und ein Aufgebot glänzender chirurgischer Instrumente. Darunter bemerkte Alice den silbernen Schnabel des Spekulums. Daneben glitzerte ein Glas mit Blutegeln, die im Lampenlicht so schwarz wie Sirup waren.
Alice versuchte, einen Entsetzensschrei auszustoßen, doch ihrem offenen Mund entrang sich kein Ton. Ihre Haut wurde heiß, dann kalt, ihr Fleisch schauderte entsetzt vor dem Anblick der Instrumente des Arztes zurück, als krabbelten Spinnen über ihren gesamten Körper. Ihr Atem ging keuchend, und eine eiskalte Schweißschicht bedeckte ihren Körper, sodass ihr Kleid auf einmal an ihren Beinen, Armen und an ihrem Bauch klebte, als ertrinke sie in ihrer eigenen schrecklichen Panik. Als sie diese Messer und Haken, diese Nadeln und Zangen, das letzte Mal gesehen hatte, war sie Zeugin eines Ausmaßes an Schmerz und Grausamkeit geworden, das sie nicht für möglich gehalten hätte. Sie hatte mitangesehen, wie ihre Schwester auf jener Liege gelegen hatte, reglos und blutend, die Beine ungeschickt gespreizt, weiß
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