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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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verloren«, sagte Alice so gelassen wie möglich. »Ich bin von meinem Vater ermuntert worden zu lesen, zu schreiben, zu denken, mich klar auszudrücken. Ich bin seinen Wünschen nachgekommen, indem ich als sein Kurator fungiert habe, seine Gehilfin in sämtlichen Angelegenheiten, die die Sammlung betreffen. Falls ich freimütig bin, liegt das daran, dass mein Vater es mir gestattet hat. Falls ich wissbegierig bin liegt das daran, dass er mich dazu ermutigt hat. Falls ich intelligent bin, liegt das daran, dass ich so zur Welt gekommen bin und er dies ausgenutzt hat, um mich nach seinem Gusto einzusetzen. Falls er es lieber sähe, wenn ich meine Meinungen für mich behielte, müsste er es mir nur sagen. Es besteht keine Notwendigkeit, an mir herumzumetzeln, um meine Kooperation zu gewährleisten.«
    »Ich kann Ihnen versichern, Miss Talbot, um die Leiden des Geistes zu lindern, müssen wir uns um den Körper kümmern.« Dr. Cattermole nippte an seinem Tee und wischte sich mit der Kante einer gefalteten Serviette über die Lippen. »Insbesondere um die Geschlechtsorgane.«
    »Aber das ist Wahnsinn!«, rief Alice. »Sie haben etwas gegen mich, weil ich Ihnen nicht schmeichele. Ich lächele und kichere nicht affektiert und ziehe mich nicht an, um Ihnen zu gefallen.« Sie runzelte die Stirn. »Und ich posiere nicht halb nackt für Sie und Ihre Kamera.«
    Dr. Cattermole wirkte ungerührt. Er lachte in sich hinein. »Ach, aber heute werden Sie das, meine Liebe. Dessen können Sie sich sicher sein.«
    Von dem Tablett voller medizinischer Instrumente neben dem Operationstisch blinkte ihr im Lampenschein Dr. Cattermoles Spekulum zu. In diesem Moment fragte sich Alice, ob sie die einzige vernunftbegabte Person in dem Zimmer war. Sie sah Mr Blake hoffnungsvoll an. Schließlich hatte er immer mitfühlend gewirkt. Doch er polierte seine Linse und stellte sicher, dass die Kamera fest auf ihrem Stativ saß.
    Leise stellte Dr. Cattermole seinen Teller ab und kam durch das Zimmer auf sie zu. Er beugte sich über sie, sein Gesicht war so nah, dass sie den Zucker und die Mandeln in seinem Atem riechen konnte. »Zweifellos gibt es da einen bestimmten Teil von Ihnen, der meiner sofortigen chirurgischen Behandlung bedarf«, flüsterte er. »Ich habe vor, das fragliche Organ zu untersuchen, zu fotografieren und zu entfernen. Dies werde ich selbstverständlich um Ihrer Gesundheit willen tun und im Einklang mit den Wünschen Ihres Vaters. Und ich werde es mit oder ohne Ihr Einverständnis tun.« Er lächelte. »Seien Sie versichert, Miss Talbot, ich sorge dafür, dass dieses kleine Teilchen von Ihnen am Ende des Abends in einem Glas eingelegt ist.«
    »Entfernen Sie auf der Stelle diese Riemen!«, schrie Alice.
    In dem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Ihr Vater stand schwer atmend auf der Schwelle. Sein Gesicht war aschgrau und sein Haar durcheinander. Sein Bart schien ein wenig zu schwelen, sein Rock war angesengt und mit gelben Flecken übersät. Er hatte seine ganz eigene Atmosphäre mitgebracht, und während er im Türrahmen stand, strömte ein kalter Luftzug in das Zimmer, vermischt mit dem Gestank nach Schwefel und Rauch. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, die Augen starr, den Mund offen, seine Brust hob und senkte sich, als sei er, ohne anzuhalten, den ganzen Weg vom Garten bis zum oberen Stock des Hauses gelaufen (was er in der Tat auch getan hatte).
    »Cattermole?«, keuchte Mr Talbot. »Es hat angefangen.«
    »Was hat angefangen?«
    Alice wand sich unter ihren Fesseln. »Vater, hilf mir!«, rief sie.
    Mr Talbot beäugte seine Tochter argwöhnisch. »Ist sie verrückt, Cattermole?«, flüsterte er. »Haben Sie sie deshalb so gefesselt?«
    »Ganz gewiss«, sagte Dr. Cattermole.
    » Du meine Güte, Vater!«, rief Alice. »Klinge ich etwa verrückt? Wirke ich verrückt?«
    Mr Talbot starrte das gerötete Gesicht seiner Tochter an, ihre zerzausten Haare und weit aufgerissenen, von schwarzen Ringen umgebenen Augen. »Nun, ja, in der Tat«, sagte er, »das tust du unbedingt.«
    »Was ist los, Talbot?«, fuhr Dr. Cattermole ihn an. »Sie sehen wie der Leibhaftige persönlich aus.«
    »Der Vulkan!«, rief Mr Talbot, dessen Augen vor Leidenschaft loderten, mit strahlendem Gesicht. »Ein absolut großartiger Anblick. Cattermole, mein Wertester. Sie müssen herunterkommen und es sich selbst ansehen.«
    Dr. Cattermole erhob sich. »Ich habe hier oben zu tun«, sagte er.
    »Kommen Sie, kommen Sie«, drängte Mr Talbot.

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