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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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begreifen. Ja, bis vor Kurzem pflegten sich Witwen auf die Scheiterhaufen ihrer verstorbenen Ehemänner zu werfen, wobei diejenigen unter ihnen, denen das Ganze eher widerstrebte, von den trauernden Verwandten des Toten gewaltsam in die Flammen geworfen wurden. Gewiss müsse sie ihm doch wohl zustimmen, dass die wahre Kirche, die christliche Kirche, unter solchen Umständen einfach einzuschreiten habe?
    Insgeheim hegte Lilian den Verdacht, dass ihr Gatte, den heftige Seekrankheit ans Bett fesselte, beinahe seit man die Landungsbrücke eingeholt hatte, und der an juckenden, geröteten Stellen in seinen Hautfalten litt, sich selbst zu überzeugen versuchte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
    Sie gingen nach einer drei Monate langen Reise in Kalkutta von Bord, zu diesem Zeitpunkt litt Selwyn bereits an Reizhusten und schlechter Laune. Sie hatten vor, nur ein paar Tage in Kalkutta zu verbringen, während ihr Gepäck ausgeladen wurde. Es war sinnvoll, auf dem Landweg per dak zu reisen (»Das ist die Post, meine Liebe«, erklärte die Gattin des Colonels. »Bei Weitem die sparsamste Reisemöglichkeit, und alle zehn Meilen gibt es die dak -Bungalows, eine äußerst preiswerte Unterkunft«), auch wenn dies bedeutete, dass sie ihr eigentliches Ziel Kushpur erst nach etlichen Wochen erreichen würden.
    In der Zwischenzeit waren sie zu Gast bei einem örtlichen Friedensrichter, der wie Selwyn aus Edinburgh stammte und seine Gastfreundschaft schon zahlreichen Missionaren aus der Heimat angeboten hatte. »Tja, es ist immer ein Vergnügen, jungen Menschen zu begegnen, die auf dem Weg sind, das Wort unseres Herrn zu verbreiten«, sagte er. »Und je mehr dieser Kerle Sie bekehren, desto mehr haben wir natürlich auf unserer Seite, was? Wie dem auch sei, während Ihres Aufenthalts hier in Kalkutta werden Sie das Indien der East India Company von seiner besten Seite erleben. Uns mangelt es nicht an Zerstreuung. Ja, morgen Abend gibt es einen Ball. Ich hoffe, Sie beide werden daran teilnehmen?« Er rieb sich erwartungsvoll die Hände und entblößte lächelnd die Zähne. »Und ich werde Ihnen liebend gern den Basar zeigen. Hier gibt es viele ausgezeichnete einheimische Kunsthandwerker, die die europäischen Stilrichtungen bewundernswert nachahmen. Solch Kunstfertigkeit wird Ihnen im Landesinneren nicht begegnen, das kann ich Ihnen versichern.«
    Lilian erwiderte, es wäre ihr ein Vergnügen, obgleich sie wusste, dass Selwyn sich da nicht so sicher war. Sie hatten den Basar bereits überquert, als sie unterwegs waren, den dak -Transport zu reservieren, und er hatte die optischen Eindrücke und Gerüche als widerwärtig empfunden. Er hatte noch nicht einmal einatmen können, ohne in sein Taschentuch zu würgen, und ihn hatten die Kinderbanden schockiert, die unentwegt auf ihn einredeten, ihn an den Beinen packten und an seiner Kleidung zerrten und flehend die Hände ausstreckten. Nachdem er die Kinder abgeschüttelt hatte, hatte er zu seiner ausgesprochenen Beunruhigung feststellen müssen, dass seine Gattin andere unerwünschte Personen anzog. Bettler von geradezu abstoßender körperlicher Versehrtheit – manche ohne Arme oder Beine, manche ohne Ohren oder Nasen, manche, die vor lauter Fliegen, die um ihre milchigen Augäpfel herumschwirrten, blind waren, manche, die gar keine Augäpfel besaßen – waren aus Eingängen getreten oder hatten sich von Matten am Straßenrand erhoben und palaverten wild gestikulierend. Lilian hatte ihnen ein paar Münzen hingeworfen, doch Selwyn mit seinem presbyterianischen Sinn für Sparsamkeit war entrüstet: Er nahm Lilian den Geldbeutel ab und zog sie in das gewundene Straßenlabyrinth.
    Nach einer Weile ließen sie es endlich hinter sich und spazierten am Flussufer entlang. »Ich werde mich nie an das alles hier gewöhnen«, murmelte er. Noch während er sprach, war sein Gesicht ganz grau geworden beim Anblick eines verkohlten Fußpaares, das aus einem Scheiterhaufen hervorragte. Ein Mann, der den Totenverbrennungsplatz hütete, stocherte mit einem langen Stock an der Leiche herum, und Selwyn übergab sich, als sich ein Bein so verdrehte, dass sich das Knie in die entgegengesetzte Richtung seines natürlichen Gelenks abwinkelte. Er sah weg … aber lag da nicht eine verwesende Männerleiche im Wasser?
    Am Abend bei Tisch hatte Lilian den Friedensrichter ge fragt, ob das möglich sei, und war darüber aufgeklärt worden, dass es leider, ja, ganz gewiss möglich sei. »Die Leichen von

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