Handbuch für anständige Mädchen
Menschen – Männer, Frauen und Kinder – wie auch von Hunden, Katzen, Ziegen und allerlei anderen unglückseligen Tieren enden im Fluss«, sagte er zwischen zwei Zügen an seiner Zigarre. »Normalerweise werden sie von den Krokodilen gefressen, aber häufig treiben sie tagelang seelenruhig im Wasser, bis sie schließlich nach unten gezogen werden, vermutlich vom Gewicht ihrer eigenen Fäulnis.«
Lilian bemerkte, wie ihr Ehemann erbleichte. Wie ein Zauberer zu Beginn eines Kunststücks zog er zwischen den Knöpfen seiner Weste ein gewaltiges rotes Seidentaschentuch hervor, um Mund und Nase darin zu vergraben. Der Fluss war keine fünfzig Meter von dem prächtigen und zivilisierten Esszimmer entfernt, in dem sie jetzt saßen. »Was ist dies für ein Ort, dass hier verwesende Leichname und Krokodile wie auch Kronleuchter und vergoldete Bilderrahmen nebeneinander existieren?«, rief er, ohne die überraschten Blicke der Gattin des Friedensrichters zu bemerken.
»Mein Bester!« Der Friedensrichter lachte. »Sie werden sich bald daran gewöhnen.«
Doch Lilian wusste es besser. Sie beobachtete, wie Selwyn erblasste, als er sich vor seinem geistigen Auge an das halb zerfressene Gesicht und den aufgeblähten, nackten Körper des Leichnams erinnerte, der inmitten der Abfälle auf dem Wasser geschaukelt hatte. »Tief durchatmen, Selwyn«, flüsterte sie. Er nickte. Sein schwerer Atem ging im Rhythmus des sanft schwirrenden punkah- Fächers an der Decke.
Am folgenden Abend fand, wie versprochen, der Ball statt. Lilian entnahm ihrem Schrankkoffer das einzige Kleid, das sie dabeihatte und das sich bei solch einem Anlass schickte. Die feuchte Hitze auf der Reise hatte bereits dazu geführt, dass der steife Seidenstoff mit grünlichem Schimmel gesprenkelt war, obgleich Lilian ihr Möglichstes tat, die Sporen mit Rosenwasser zu entfernen. Selwyn zog einen weiteren seiner schweren schwarzen Anzüge an – er hatte einige mitgebracht, allesamt identisch. Es war die ideale Kleidung, um damit die Kranken und Bedürftigen in den Slums von Edinburgh und London zu besuchen, doch in Kalkutta schienen sie die Hitze in sich aufzusaugen, der schwere Stoff schnitt ihm in die Haut und drückte ihn nieder, bis es den Anschein hatte, als werde er jeden Moment in die Knie sinken, allerdings eher aus Resignation denn zum Gebet. Lilian suchte ihm einen frischen Kragen heraus. Und dann zwang sie ihn, sie auf den Ball zu begleiten, ungeachtet seiner Beschwerden, dass er sowieso noch nie gern getanzt habe, dass so eine Aktivität in dieser Hitze doch gewiss absurd und bestimmt äußerst gesundheitsschädlich sei, und übrigens, sei ihr eigentlich bewusst, dass die Zinkspatsalbe, mit der sie ihm den juckenden Rücken eingetupft habe, an seinem Hemd klebe?
Es herrschte ein solcher Damenmangel, dass Lilian trotz ihres altmodischen Kleides beinahe zu jedem Tanz aufgefordert wurde. Während der Abend unter ihren Füßen dahinwirbelte, bemerkte sie kaum, wie warm es allmählich in dem Raum wurde – obgleich ihr nicht entging, dass andere Damen ermatteten. Der Ballsaal wurde von hundert Kerzen erleuchtet, was die drückende Hitze noch verstärkte, während die feuchten Fliegengitter aus duftenden Gräsern, die die Fenster bedeckten, sowie die punkah- Fächer, die langsam an der Decke hin- und herstrichen, der ständig steigenden Temperatur nicht viel entgegenzusetzen hatten.
Im Ballsaal ließen sich die Damen überall in Sessel fallen, die Gesichter glänzend vom Transpirieren, und ihre Locken lösten sich in der Hitze und hingen ihnen in laschen Strähnen an den glühenden Wangen. Neben ihnen mühten sich junge Männer mit puterroten Gesichtern in engen Militäruniformen oder Wollanzügen, die Kragen und Hemden dunkel vom Schweiß, tatkräftig mit den Fächern ihrer Begleiterinnen ab in dem vergeblichen Versuch, die stickige Atmosphäre zu einer Brise aufzufächeln.
Lilian lächelte vor sich hin, als ein junger Subalternoffizier mit einem borstigen, blonden Schnurrbart und gelben Zähnen quer durch den Saal Walzer mit ihr tanzte. Wie albern wir in den Augen der Eingeborenen aussehen müssen, dachte sie. Sie betrachtete die verschwitzten, keuchenden Gesichter, die im Kerzenschein im Kreis um sie herumwirbelten, hüpfende, umhertänzelnde Europäer. Man sollte meinen, wir befänden uns in Bath, nicht in Bengalen.
Genau das sagte sie ihrem Partner mit der zottigen Oberlippe und bereute ihre Freimütigkeit umgehend. »Meine werte Dame«, sagte er
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