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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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mit überraschter Miene. »Sollen wir etwa Pyjamas tragen und uns weigern, Roastbeef zu essen?« Und damit lächelte er sein gelbes Lächeln und wirbelte sie erneut herum.
     
    Lilian war froh, die Stadt hinter sich zu lassen, trotz deren Anspruch auf Zivilisation. Zivilisation, fand sie, hatte noch nie so heiß und ungemütlich gewirkt. Nun, da sie in der dak- Sänfte durch die Gegend geruckelt wurde, die Vorhänge aufgerollt, damit sie die vorbeigleitende Landschaft betrachten konnte (auch wenn das die schreckliche Hitze, eine erstickende Staubwolke und zahlreiche summende Insekten hereinließ), überlegte sie, welch Glück sie hatte, all dem entkommen zu sein. Und noch wichtiger, ihrem Zuhause entkommen zu sein – woanders zu sein als in der grotesken Atmosphäre ihres väterlichen Hauses, umgeben vom Wust seiner endlosen Besitztümer. Zugegebenermaßen hatte der Wintergarten mit seinem Pflanzenreichtum eine befriedigende Ablenkung dargestellt, aber am Ende hatte sie sich genauso eingeschlossen und beengt gefühlt wie ebendie Pflanzen, die sie anbaute. Und als sie das Große Haus letztlich verlassen hatte, befreit, wie es schien, durch Selwyn Frasers Heiratsantrag, hatte sie insgeheim darum gebetet, nie wieder zurückzukehren. Jetzt bereitete ihr lediglich der Gedanke an Alice Sorge, die immer noch zu Hause in England war.
    In den folgenden Tagen nahm Lilian einige nützliche und, wie sie fand, nötige Änderungen an ihrer Lebensweise vor. Als sie über die indischen Ebenen weiter ins Landesinnere reisten, ging sie dazu über, einen Tropenhelm aufzusetzen, anstatt mithilfe eines Sonnenschirms ihre blasse Haut vor der brennenden Sonne zu schützen. Statt ihren Mann zu bitten, mit den Trägern zu sprechen, erlernte sie mühsam die Grundlagen ihrer Sprache, um sich direkt an sie wenden zu können. In der zweiten Nacht ihrer Reise hatte ihr ein Träger auf ihre Bitte hin gezeigt, wie man das Gewehr bediente. Sie übte, indem sie die reifen Früchte, die schwer an den Mangobäumen hingen, zu Brei schoss, und konnte mittlerweile gut mit dem Gewehr umgehen. Sie sorgte dafür, dass es stets gut geölt und einsatzbereit war.
    Sie reisten nur vormittags. Am Nachmittag schlief Selwyn erschöpft in dem jeweiligen dak- Bungalow, den sie gerade erreicht hatten. Lilian hingegen war zu ruhelos, um geduldig an seiner Seite zu liegen. Das Gewehr über der Schulter, ihre Notizbücher, Farben und Pinsel in der Tasche und ihre Staffelei und das Papier auf den Rücken geschnallt, pflegte sie loszuwandern und die Gegend zu erkunden. Um die Sache zu erleichtern, gewöhnte sie sich an, unter ihren Röcken eine Hose ihres Ehemannes zu tragen, die es ihr ermöglichte, mit Leichtigkeit, und ohne an Würde einzubüßen, über Baumstümpfe zu klettern und Felsen zu erklimmen.
    »Wirklich, meine Liebe«, sagte ihr Mann, nachdem er eine Woche lang mit angesehen hatte, wie seine Gattin ins Gestrüpp verschwand. »Das ist höchst ungebührlich. Was werden die Eingeborenen denken, wenn sie eine Dame allein im Dschungel herumwandern sehen?«
    »Ram begleitet mich«, erwiderte Lilian. »Und das hier ist die Ebene, nicht der Dschungel.«
    Selwyns erhitztes Antlitz nahm einen noch dunkleren Rotton an, wie immer, wenn sie ihm widersprach. »Hat dich dein Anstandsgefühl denn vollständig im Stich gelassen?«, rief er. »Außerdem warten dort vielleicht Diebe oder wilde Tiere auf dich, wenn du zu weit herumstreifst. Dieser Kerl ›Ram‹, für den du so viel übrig zu haben scheinst, wird ganz bestimmt davonlaufen und dich deinem Schicksal überlassen. Und wenn du hinfällst und dir das Bein brichst? Oder von einer Schlange gebissen wirst?« Lilian stellte sich taub.
     
    Die Reise nach Kushpur dauerte fast drei Monate. Drei Monate, in denen Lilian zu wachsen schien, wohingegen ihr Ehemann dahinschwand. Anstatt die Hitze ermattend zu finden, blühte Lilian auf. Ihr Teint wurde rosig, sie machte selbstsichere, weit ausholende Schritte.
    »Du gehst wie ein Mann«, klagte ihr Gatte gereizt, während er die nässenden Bläschen der Schuppenflechte aufkratzte, die seine Handrücken bedeckte. »Und was ist das für ein Kauderwelsch, das du ständig vor dich hin murmelst?« Er blickte finster drein und hustete schwach. »Und um Himmels willen, nimm bloß diesen Hut ab, bevor wir jemandem begegnen, den wir kennen.«
    »Wen kennen wir denn hier draußen?«, erkundigte sich Lilian sanft. Sie war gerade dabei, das Gewehr mit Öl und einem weichen Baumwolltuch zu

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